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Kapitel I, zweiter Teil
Von dimitrikalaschnikov, 04.08.2007, 08:08

 

Unser Grundstück ist wirklich sehr groß. Der Garten ist größten Teils dicht bewaldet, und mitten hindurch fließt ein kleiner Bach, der in einen ebenso kleinen See neben dem Haus mündet.

Dieser Bach, der Mississippi, wie ich ihn früher einmal liebevoll getauft hatte, ‚spendet’ laut den zur Umsicht mahnenden Worten meines Vaters ‚den Bäumen und Blumen hier genug Wasser zum Wachsen und Gedeihen, und bietet außerdem einen natürlichen Lebensraum für viele verschiedene Tierarten. Er ist deshalb besonders wichtig für das Leben in unserem Garten, Mitja.’

Und es stimmt, auch wenn ich es anders ausgedrückt hätte. Aus diesem Grund sollte man eigentlich im Sommer sehr behutsam im Umgang mit dem Mississippi sein, um die brütenden Tiere nicht zu stören.

Aber damals, als ich mir meinem Weg durch das dichte Buschwerg und den matschigen Uferbereich schlagen musste, dachte ich gar nicht daran, auf irgendetwas oder irgendjemanden Rücksicht zu nehmen. Was interessierten mich die Bewohner des Mississippi schon angesichts meines eigenen Leids?

Ich scheuchte ein paar Enten auf, als ich laut fluchend über die kleine Holzbrücke hüpfte, um ins Haus und zu meinen Eltern zu gelangen.

Das war ein etwas komplizierteres Unterfangen, da es am Morgen geregnet hatte und demzufolge die Bretter der Brücke sehr glitschig waren. Ich erinnere mich noch genau, dass ich beinahe kopfüber in das kalte Wasser gefallen wäre. Aber ich konnte mich gerade noch an einem Ast festhalten und landete deshalb nur im Matsch am anderen Ufer.

Irgendwie schaffte ich es, mich wieder aufzurappeln und dann durch die Verandatür in unser Wohnzimmer zu kommen. Dort ließ ich mich erst einmal, so dreckig wie ich war, auf unser Sofa fallen und legte auch noch meine Füße hinauf.

Im Moment war mir alles egal. Medea war weg. Was störte mich da noch der Dreck? Mom konnte ihn später wegmachen. Außerdem tat mein Fuß schließlich immer noch höllisch weh! Ach ja, mein Fuß. Den hatte ich doch beinahe völlig vergessen. Wie absurd.

Ich holte tief Luft, öffnete den Mund und brüllte los: „Hilfe! Mom! Dad! Mom! Dad!“

Ich glaube, das ganze Haus wackelte, so laut schrie ich. Ich war mir sicher, dass meine Eltern sofort alles stehen und liegen lassen und schon zwei Sekunden nach meinem ersten Schrei bei mir sein würden. Das waren sie immer. Sofort bereit, mir beizuspringen, wenn irgendwas sein sollte. Natürlich. Und ich nahm es hin.

Sie waren ja immer so in Sorge um mich. Meine Mom war der festen Überzeugung, ich sei etwas ganz besonderes, und dieser Meinung schloss ich mich gerne an. Doch sie sagte auch, ich sei eine sehr tiefgründige Person, und das fand ich dann wiederum nicht so toll. Ich, tiefgründig? Warum nicht gleich schwul? Das war für mich beinahe das gleiche. Aber so etwas musste sie wohl glauben, schließlich war ich ihr Schätzchen, ihr einziges Kind.

‚Also,’ dachte ich, ‚warum sie nicht ein bisschen mit ihrer Angst ärgern und sich etwas bemitleiden und umsorgen lassen?’ Wenn sie nicht wollte, dass ich cool war, dann würde ich es eben auch nicht sein.

Ich weiß, mein Verhalten war albern, aber es passte zu meiner damaligen Verfassung. Ich war launisch. Ich wollte erwachsen sein, aber ich wollte auch die Privilegien eines Kindes behalten. Und ich wollte beachtet werden. Besonders jetzt, nachdem Medea mich verlassen hatte. Das war meine erste Reaktion.

Also schloss ich die Augen und schrie einfach weiter um Hilfe, stöhnte dabei auch öfter einmal vor Schmerz, was mir sehr realistisch gelang, worauf ich übrigens mächtig stolz war.

Ich jammerte und jammerte, obwohl meine Mutter mir längst beide Hände auf die Schultern gelegt hatte und mich kräftig rüttelte.

Wenn ich heute, fast 30 Jahre später, daran zurückdenke, wie ich mich verhielt, schäme ich mich regelrecht dafür. Schaut man sich diese Situation an, wie alt würde man mich schätzen? 7? Oder vielleicht sogar 12? Aber ich war damals schon 19! Ich lag als 19jähriger laut schreiend auf dem Sofa, weil ich mir weh getan hatte. Dass ich nach einem Arztbesuch keinen Lolli verlangte, war auch schon alles.

Und dabei schrie ich nicht einmal wirklich wegen meinen Schmerzen, sondern einfach nur, weil ich Aufmerksamkeit wollte und ein Ventil brauchte, um meine Wut und Traurigkeit loszuwerden. Und das wusste ich. Doch sie einfach offen einzugestehen, konnte ich nicht mit meiner Vorstellung vom Erwachsensein vereinbaren. Etwas verzwickt, aber mir damals durchaus einleuchtend.

Als meine Mutter mich endlich beruhigt hatte, erzählte ich ihr, ich sei gestolpert und könne nicht mehr auftreten, woraufhin sie mir sofort mit einem entsetzten „Gabriel!“ meinen Vater auf den Hals hetzte, der sich auf mich stürzte als sei er ein hungriges Raubtier und ich eine einfach zu fassende Beute, mich hochzog wie einen nassen Sack und meinen Arm um seine Schulter legte. Dann bugsierte er mich hinaus zu unserem Auto, wobei er mich mehr trug als dass ich selber ging.

Meine Mutter war schon draußen und hielt uns die Autotür auf. Sie hatte die Rückbank umgeklappt, und ich legte mich nun auch gehorsam darauf.

Mein Vater klemmte sich hinter das Lenkrad, und meine Mutter schlug nach einigem Zögern, ob sie sich vielleicht zu mir auf die Rückbank setzen sollte, die hintere Tür zu, stieg ebenfalls ein, und dann ging es auch schon los.

Während der Fahrt ins Krankenhaus fragte mein Vater mich aus, ob mir sonst noch irgendwas weh täte. Außer dem Fuß, natürlich. Er war der Besitzer und gleichzeitig der Chefarzt des Krankenhauses hier in Ludwin, des Casa, und da war es selbstverständlich, dass er selbst mich untersuchen würde. Er hätte die Gesundheit seines Sohnes niemals in fremde Hände gelegt.

Deshalb seine Fragen im Voraus, damit es nachher schneller gehen sollte. Als ich verneinte, atmete meine Mutter erst einmal erleichtert auf. Sie hatte sich schon das Schlimmste ausgemalt, angefangen von haufenweise Knochenbrüchen bis hin zu inneren Verletzungen.

Als mein Blick zufällig in den Spiegel fiel, der in die Kopfstütze des Fahrersitzes integriert war, erschrak ich. Ich konnte sie plötzlich verstehen. Über mein Gesicht zog sich ein schlammiger und blutiger Streifen. Es sah aus, als hätte ich mich mit Kriegsbemalung eingeschmiert.

Erstaunt sah ich zu meiner rechten Hand hinunter. Sie war blutig und in der Handfläche aufgeschnitten. Ich musste mich wohl vorhin an dem Ast verletzt und mir dann über das Gesicht gewischt haben.

Obwohl ich wusste, dass es nichts schlimmes war, bekam ich trotzdem plötzlich etwas Angst. „Mom, ich – ich blute!“ „Ich weiß, Schatz. Aber Dad kriegt das schon wieder hin. Noch 2 Minuten. Warte einfach ab!“ „Okay, Mom.“ Und schon war meine Angst wieder verflogen.

Wir erreichten kurz darauf die Klinik meines Vaters. Das erste, was meine Mutter dort tat, war, dass sie lauthals nach einem Rollstuhl verlangte. Sofort brachte ein Pfleger einen, in den ich mich dann setzen musste, oder setzen durfte, ganz wie man es sieht.

Langsam fing die Sache an, mir richtig Spaß zu machen. Mein Fuß tat kaum noch weh, der Schnitt in meiner Hand störte mich überhaupt nicht mehr, und es war einfach ein echt gutes Gefühl, zu sehen, wie sehr sich andere um mich sorgten. Besonders jetzt.

Also zog ich ein vor Schmerz verzerrtes Gesicht, schloss die Augen halb und stöhnte etwas gequält. Sofort wurde der Schritt meines Vaters, der mich in dem Rollstuhl schob, schneller.

Nur wenige Augenblicke später war ich auch schon beim Röntgen. Im Nachbarraum stand meine Mutter vor dem Glasfenster und lächelte mir die ganze Zeit über zu, was mich wohl aufmuntern sollte.

Da bekam ich ein schlechtes Gewissen und grinste zurück. Ich wollte gerade noch das Victory-Zeichen machen, aber jemand holte mich aus dem Raum.

Ein Arzt nähte meine Wunde (was ich völlig überflüssig fand), während die Röntgenbilder ausgewertet wurden. Das ging überraschend schnell, und schon kam mein Vater wieder zu mir.

Und was sagte er? Tatsächlich, mein Knöchel war angebrochen. War ja klar gewesen.

Aber eigentlich kann man nicht gerade sagen, dass ich den Gedanken, einen gebrochenen Fuß zu haben, so schrecklich fand. War doch mal was neues. Eine nette Abwechslung bei der Eintönigkeit, die seit einiger Zeit in meinem Leben herrschte.

Es war mir nur etwas peinlich, wie das alles passiert war. Wenn das einer meiner Freunde mitbekam! Nicht auszudenken! Vor meinem geistigen Auge sah ich schon die Überschrift in unserer nächsten Schülerzeitung:

‚Weil seine Freundin ihn nach zwei Jahren sitzen ließ, brach sich Dimitri Kalaschnikov vor Verzweiflung den Fuß!’

Also beschloss ich, lieber bei der „Stolper-Version“ zu bleiben. In der Schule konnte ich sie ja noch ein bisschen ausschmücken und dramatisieren....

Kai würde ich natürlich die Wahrheit erzählen. Er würde nicht lachen, und er würde auch nichts weitererzählen. Er würde gar nichts sagen, aber mir würde es besser gehen, weil ich mein Geheimnis teilen konnte.

Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, während mein Vater mir einen fachgerechten Gips anlegte. Dabei fragte er mich immer wieder, ob es mir gut gehe. Er machte sich anscheinend ernsthafte Sorgen, dass ich noch etwas hatte, von dem ich nichts sagte. Aber da war ja nichts.

Meine Mutter hielt meine Hand. Ich weiß auch nicht, warum sie es tat, aber ich fühlte mich dadurch noch ein bisschen besser.

Sie fragte mich, ob ich noch irgendwas brauchte. CDs vielleicht oder ein neues Computerspiel. Weil ich doch jetzt erst einmal einige Zeit zu Hause bleiben musste. Sie war wirklich besorgt.

„Nein, Mom, ich habe genug. Aber trotzdem danke!“ „Wenn du meinst, dass du nichts brauchst... Aber falls da noch irgendwas kommen sollte...“ „Sag ich Bescheid, natürlich, Mom!“

Ein richtiges Hochgefühl überkam mich. Wow! Das wurde ja immer besser! Vielleicht eine ganze Woche zu Hause bleiben. Keine Schule! Was meine Freunde dazu wohl sagen würden? Und Medea? Ach ja, Medea.

Sofort war meine gute Laune wieder verschwunden. Medea. Sie hatte mich einfach sitzen lassen. Sie hatte mich alleine gelassen. Verdammt noch mal!

Aber wer war sie denn, dass ich wegen ihr so ein Theater abzog? Dann musste ich eben ohne sie zurecht kommen. Schön! Ich würde schon was neues finden.

Jetzt besorgte ein Krankenpfleger mir erst einmal ein Paar schöne Krücken und einen Rollstuhl. Dann ging es wieder nach Hause, wo meine Mutter mir einen Liegestuhl in die Sonne auf unsere Veranda stellte und mein Vater mich hinein hievte.

Ich genoss es, so in der Sonne zu sitzen und nichts zu tun. Doch allmählich wurde mir langweilig. Und das schon am ersten Tag. Wie sollte das dann eine ganze Woche lang gehen?

Und wie immer, wenn mir langweilig wurde, musste meine Mutter es ausbaden. „Mom!“ rief ich. „Mom! Bringst du mir etwas zu trinken?“

Sie war in ihrem Arbeitszimmer, kam aber sofort raus. „Was möchtest du denn haben, mein Schatz? Cola? Oder Limonade? Oder vielleicht lieber einen schönen, kalten Saft?“ „Saft bitte, Mom!“ Sie brachte ihn mir und ging wieder rein.

Zehn Minuten schaffte ich es, mich mit meinem Orangensaft zu beschäftigen. Dann musste meine Mutter schon wieder herhalten.

„Mom, spielst du mit mir Karten?“ „Eigentlich muss ich noch etwas arbeiten...“ „Bitte!“

Sie sah mich an und ich wusste, dass ich gewonnen hatte. „Also gut. Heute ist ja ein Sonderfall! Da kann ich schon mal eine Auszeit nehmen. Warte, Mitja, ich hole das Spiel!“

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