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Kapitel III, zweiter Teil
Von dimitrikalaschnikov, 07.08.2007, 08:30

 

Während der ganzen Stunde sagte der Neue keinen Ton mehr. Und als ich versuchte, von ihm mehr über seine Heimat und sein Leben zu erfahren, gab er nur sehr gemessen Antwort und beschränkte sich darauf, in seinem seltsamen Ton die Informationen zu wiederholen, die ich ja ohnehin schon mitbekommen hatte. Tja, und das war’s dann auch schon. Obwohl ich lieber mehr von ihm gehört hätte.

Als die Stunde endlich vorbei war, erinnerte ich Fräulein Dorle daran, mit dem Hausmeister zu sprechen, woraufhin sie genervt, aber auch irgendwie belustigt stöhnte und dann mit Lou verschwand.

Ich widmete mich angesichts dieses offensichtlichen Sieges wieder völlig meinem Amt als „König“, wie Dorle sich so schön ausgedrückt hatte. Ich rief Leon und Max zu mir und beriet mich mit ihnen. Es galt, die „Begrüßung“ zu planen. Und außerdem stand unser alljährliches Sommerfest, das gleichzeitig auch der Abschluss des ersten Halbjahres war, kurz bevor. Wir wollten, wie immer, bei mir im Garten feiern, und Leon hatte es übernommen, Einladungen zu organisieren.

„Also, die Party steigt am 30. Am besten, wir fangen dieses Mal schon um 20:00 Uhr an. Pennen könnt ihr dieses Jahr aber nicht wieder bei uns im Garten. Da habt ihr zuviel kaputt gemacht. Ich kümmere mich dann um einen guten DJ. Noch Fragen? Gut, dann ist ja alles klar! Ach, und Leon, vergiss nicht, für Kai auch drei Einladungen zu machen! Du weißt ja, er bringt sich dann wieder zwei seiner Freunde mit. Und was den Neuen, diesen Lou betrifft....“

„Achtung!“ wurde ich unterbrochen. Und kurz nachdem dieser Warnruf erschollen war, betrat der Hausmeister, ein kleiner, dicker Mann, ächzend den Raum. Er trug einen Tisch, auf dem ein Stuhl stand.

Schwer atmend setzte er seine Last jetzt ab und wischte sich mit seinem Taschentuch das Gesicht ab. Hinter ihm betrat Lou die Klasse. Er hielt die Hände noch immer gefaltet und beim Gehen gleitete er auf eine seltsame Art vorwärts. Das Bild einer Katze, die sich auf leisen Pfoten fortbewegt, drängte sich mir wieder auf. Angesichts dieses Katers wäre ich wahrlich nicht gerne eine Maus.

„Aber das hätten Sie doch nicht tun brauchen! Ich hätte Ihnen doch helfen können!“ sagte der Neue jetzt ruhig, aber bestimmt zu unserem Hausmeister. Hatte der ihm wirklich den Tisch samt Stuhl hier herauf getragen, in den dritten Stock? War der Hausmeister etwa krank? So etwas war noch nie vorgekommen!

„Nein, nein, Prinz Lou, das war doch kein Problem! Wenn ich Ihnen noch irgendwie helfen kann, sagen Sie es nur!“ Er machte einen tiefen Bückling und auch Lou verbeugte sich leicht. Dann verschwand der Hausmeister schweratmend und ließ uns alleine zurück.

Ich befürchte, ich habe nicht gerade ein geistreiches Gesicht gemacht. Ich habe wohl im Gegensatz eher ziemlich verdattert dreingeschaut. So zuvorkommend war unser alter Hausmeister nie zu einem von uns gewesen.

 

Nach den ersten beiden Stunden war ich noch immer nicht mit mir im Reinen, was ich von dem Neuen denken sollte. Einerseits gefiel er mir ganz gut. Er hatte sich weder als besonders strebsam noch als übermäßig klug gezeigt.

Er war ruhig gewesen und hatte dem Unterricht seine volle Aufmerksamkeit geschenkt, sich jedoch nicht ein einziges Mal zu Wort gemeldet. Nur als er von Herrn Andersen in der zweiten Stunde nach einer mathematischen Formel gefragt wurde, gab er knapp und nüchtern Antwort. Mehr von seinem Wissen ließ er nicht sehen.

Andererseits wirkte das Verhalten des Neuen etwas arrogant auf mich. Aber was machte ein bisschen Hochmut schon? Jedem das Seine. Nur mochte ich es nicht, dass er so anders war als wir. Er war zu erwachsen. Er würde sich nicht so ohne weiteres in unsere Gemeinschaft einfügen.

Ich wog das Für und Wider meiner Sympathie für den Neuen ab, konnte aber zu keinem klaren Schluss kommen. Nur eines war klar: Ich musste ihn gut im Auge behalten!

 

In der Pause traf ich mich wie immer mit Kai. Er kam mir sprichwörtlich mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegen.

„Hey, Alter!“ begrüßte ich ihn. „Was ist los?“ „Hey, Mitja! Stell dir vor, ich war eben mit meinen Eltern beim Junker.“ „Ich weiß,“ nickte ich. „Hast du heute Morgen doch gesagt.“ „Hab ich? – ach ja, stimmt. Jedenfalls – sie haben mich abgemeldet und auch gleich alle Formalitäten geklärt – wann ich nach diesem Halbjahr wo zu welcher Schule gehen werde und so weiter und so fort. War wirklich interessant!“

Er hörte sich plötzlich sehr wütend an, und fuhr ironisch fort: „Ich wusste es ja selber noch nicht. Ist ja natürlich auch nicht so wichtig, dass ich es weiß! Naja – jetzt rate mal, wo ich die Schulbank drücken werde!“

Ich sah ihn verwundert an. „Keine Ahnung. Sag mal!“ „Da kommst du nie drauf!“ „Los, jetzt spann mich nicht so auf die Folter! Wo sollst du hin?“

Er beobachtete mich und versuchte zu grinsen. Das kannte ich. Es ging ihm verdammt dreckig. Er war sicher wütend, aber ich wettete hundert zu eins, dass er damit nur seine Enttäuschung, Angst und Traurigkeit überdecken wollte. Insgeheim bettelte ich: ‚Bitte, nicht so weit weg, nicht so weit!’

Und dann kam es: „Ich soll nach Seraph ins Justiz-Internat.“ Er sah mich unsicher an und grinste wieder zögernd. Ich fiel aus allen Wolken. Aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

Er fuhr betont munter fort: „Du, das wird bestimmt super! In Seraph ist es ja ein paar Grad wärmer als hier. Und für meine Sprachkenntnisse ist der Wechsel sicher auch echt gut! Wegen dem mehrsprachigen Unterricht. Und außerdem haben die da sogar einen eigenen Pool und auch Sportplätze und so. Das ist doch echt super, oder?“

Er sah mich so komisch an, richtig verzweifelt. Ich wollte mit dem Fuß aufstampfen, erinnerte mich aber Gott sei Dank gerade noch rechtzeitig an meinen Gips, und ließ es deshalb lieber bleiben. Stattdessen warf ich meine Krücken auf den Boden und knurrte: „Scheiße, verdammte Scheiße!“ Es ging mal wieder nicht anders. Ich konnte nie etwas für mich behalten. Außerdem – er wusste es ja selber.

Er hob meine Krücken wieder auf und drückte sie mir in die Hand. „Danke.“ Ratlos sah ich zu Boden. Aber nur kurz. Als Kai sprach, ließ die Art, wie er es tat, mich sofort wieder aufblicken. Er bettelte. Das hatte er noch nie getan. Noch nie in dieser Art.

„Sag mal, wir – wir bleiben doch trotzdem Freunde, ja?“ Ich hatte nicht vorgehabt, es zu tun, aber jetzt heuchelte ich ihm doch etwas vor. So gut es ging. Ich hatte das noch nie getan, aber jetzt musste es einfach sein.

Ich hoffte inständig, es würde klappen. Obwohl – was würde es schon ändern? Wir würden uns gegenseitig etwas vormachen. Denn jeder von uns wusste Bescheid. Aber vielleicht – vielleicht konnte jeder dem anderen glauben? Dann wäre es für beide einfacher. Manchmal tun Lügen gut.

„Komm, Junge, jetzt mach hier mal keinen auf ‚Abschied für immer’! Natürlich bleiben wir Freunde! Was macht die Entfernung schon aus, bei zwei Typen wie uns!?!“

Aber ich wusste, dass sie sehr wohl etwas ausmachen würde. Und ich sah, dass auch er es wusste. Wären wir nicht hier auf dem Schulhof gewesen, umgeben von anderen Schülern, hätte er sicher geheult. Und ich dann auch.

Seraph! Das war mindestens 500 Kilometer weit weg! Mir war klar, dass an dieser Strecke unsere Freundschaft über kurz oder lang in die Brüche gehen musste. Und ich konnte mir absolut nichts schlimmeres vorstellen, als dass sie auf diese Weise langsam starb. Dann wäre es besser gewesen, ich hätte ihn nie kennengelernt.

Ich hatte mir schon oft voller Angst vorgestellt, wie es wäre, wenn jeder von uns irgendwann einmal seinen eigenen Weg gehen würde, der ihn vielleicht weit weg führte. Was würde dann werden?

Eines stand fest: Ich würde viel vermissen. Voller Angst hatte ich daran gedacht, und immer wieder hatte ich diesen Gedanken erfolgreich verdrängt. Aber jetzt war er plötzlich höchst aktuell und die Gefahr real.

Ich wusste, wie es werden würde. Ich hatte es tausend Mal durchgespielt oder bei anderen miterlebt. Erst würde ich ihm in Briefen alles schreiben, was passierte, dann würde es zu kompliziert werden, ihn auf dem Laufenden zu halten. Er würde neue Freunde finden, und unsere Unterhaltungen würden sich auf das Wetter, unseren letzten Urlaub oder irgendwelches unwichtiges Zeug beschränken. Wir würden versuchen, in der Vergangenheit weiterzuleben, aber es würde uns nicht gelingen. Und dann wäre es endgültig vorbei mit mir und meinem besten Freund, meinem Blutsbruder.

Aber das konnte ich Kai unmöglich sagen. Es war so schon schwer genug, und merken würden wir es früh genug. Vielleicht war es einfacher, wenn keiner es aussprach, wenn wir beide uns unsere Illusionen bewahrten.

Also fügte ich noch schnell hinzu: „Und außerdem kommst du ja in den Ferien auch wieder zurück! In der übrigen Zeit können wir uns ja schreiben. Du wirst sehen, es wird eine tolle Zeit für dich in Seraph!“ „Kann schon sein, aber...“

Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, holte ich mein Geld aus der Tasche, drückte ihm etwas in die Hand und sagte übertrieben fröhlich: „Los, ich spendier ein Eis! Aber eines von den schön großen für mich, okay? Und deins darf natürlich auch nicht kleiner sein!“ Er grinste und ging dann kopfschüttelnd davon, um uns Eis zu kaufen.

Ich rechnete nach. Heute war der 19. Mai. Am 30. stieg unsere Party. Das war ein Freitag. Also war der Montag, an dem das neue Halbjahr anfing, der 2. Juni. Das hieß, wenn Kai am Sonntag fahren würde, hatte ich noch genau 14 Tage mit ihm, den heutigen eingerechnet.

‚Verdammt!’ Insgeheim verfluchte ich seine Eltern. Eigentlich mochte ich sie ja ganz gern, aber mussten sie denn meinen besten Freund ausgerechnet nach Seraph schicken? Hätte es nicht auch etwas hier in der Nähe sein können? Das wäre ja schon schlimm genug gewesen, aber jetzt Seraph! Und nur, weil man dort angeblich ja so gute Erfahrungen mit ‚leistungsschwachen’ Schülern hatte. Leistungsschwach! Kai konnte vielleicht kein Mathe, aber er war doch nicht dämlich! Verdammt noch mal!

‚Hoffentlich bleibt er überhaupt noch bis zum 30.!’ fuhr es mir durch den Kopf. Nein, er musste einfach bleiben!

„Hier, dein Eis!“ Erschrocken sah ich auf. „Äh, danke! Komm, wir setzen uns da auf die Bank!“ Kai nickte und setzte sich langsam in Bewegung.

„Sag mal, Kai“, fing ich vorsichtig an, „du bist doch zu unserer Party noch da, oder? Du weißt schon, unser Sommerfest am 30.“ „Ja, ich denke schon. Das heißt, ich hoffe es. Sicher ist bis jetzt nur, dass ich das nächste Halbjahr nicht mehr hier sein werde. Aber die Party werde ich schon nicht verpassen!“ „Super! Das wär ja auch kein richtiges Sommerfest geworden, wenn du gefehlt hättest! So, dann ist ja alles klar. Jetzt weiß ich nur noch nicht, was ich mit diesem Lou machen soll. Ich...“

„Lou? Welcher Lou?“ „Ach, das weißt du ja noch gar nicht! Lou ist ein Neuer. Irgend so ein Spinner, der behauptet, sein Vater wäre ein Prinz, und er hieße ‚von Ljuba’ mit Nachnamen und komme aus Ljuba. Und als Religion hat er Materismus angegeben. Verrückt, was? Und die Dorle hat ihm das auch noch abgekauft!“

„Aus Ljuba? Warte, da hab ich doch letztens was drüber gelesen... Das war auf so einem Flugblatt... Moment, irgendwo hier müsste es doch sein...“

Er kramte in seiner Tasche herum und zog ein zerknittertes und verschmiertes Blatt hervor. „Hier!“ rief Kai triumphierend und strich den Fetzen Papier vorsichtig glatt. Dann las er mir vor: „Heute Vormittag erhielten wir die Nachricht...usw., usw.,...dass Prinz Raben, der jetzige Herrscher in Ljuba, mit seinen Kindern für einige Zeit Ludwin besuchen wird. Der junge Prinz Lou Tibeht II...usw., usw.! Was hältst du davon!?! Dein Lou ist ein echter Prinz!“ „Meinst du, er ist es?“

Ich zweifelte noch immer. Doch Kai war schon Feuer und Flamme. „Aber klar! Oder heißt er nur Lou, ohne Tibeht?“ „Nein, Lou Tibeht stimmt schon.“ „Also! Das wär doch ein verdammt großer Zufall, wenn gerade jetzt im Moment zwei Männer, die sich Lou Tibeht nennen und aus irgendeinem kleinen Land, dass Ljuba heißt, hierher in unser noch kleineres Ludwin kämen!“

Wow! Dann hatte ich jetzt also einen echten Prinzen neben mir sitzen! Oder besser, sitzen gehabt. Ich hatte ihn ja weggejagt. Mensch, das war ja irre! Diese komische Nummer wurde ja immer merkwürdiger!

Aber dieser Lou sollte nur nicht denken, er würde hier bei uns eine Extrawurst bekommen. Nein, hier galt er so viel wie alle anderen auch! Und ein bisschen weniger als ich. Also würde ich den anderen lieber nichts von unserer Entdeckung erzählen. Sonst würden sie noch auf dumme Gedanken kommen.

 

So bildete ich mir meine erste Meinung über Lou. Ich dachte, er wäre verwöhnt, überheblich und arrogant. Musste er ja sein, schließlich war er ein echter Prinz, den in seiner Heimat alle mit ‚Hoheit’ anreden mussten und der später einmal ein ganzes Volk unter seiner Führung haben würde.

Also würde ihm die kleine Abreibung, die er morgen erhalten sollte, nicht schaden. Er konnte ruhig direkt merken, wo sein Platz war und dass sich hier niemand darum kümmerte, ob er nun ein Prinz war oder nicht!

 

Am gleichen Abend war ich mit Kai im Kino verabredet. Mein Vater und meine Mutter hatten Hochzeitstag. Sie wollten zur Feier des Tages in irgendein vornehmes Restaurant gehen. Ich hatte mich geweigert sie zu begleiten, und darauf bestanden, dass sie alleine fuhren. Deshalb konnten sie mich nicht zum Kino bringen, was meiner Mutter anfangs einige Kopfschmerzen bereitete.

Sie setzten mich an einer Bushaltestelle ab und sagten, sie würden mich in einer Bar, ganz in der Nähe des Kinos, wieder abholen, wenn sie auf dem Weg nach Hause wären. Mein Vater müsste allerdings vorher noch schnell in der Klinik vorbei fahren. Es könnte also etwas später werden, aber ich wäre ja nicht allein. Dann wünschten sie mir viel Spaß und fuhren davon.

Ich atmete auf. Endlich! Gut, dass sonst niemand an der Haltestelle stand. Diese zehnminütige Verabschiedung hätte peinlich werden können.

Der Bus hatte Verspätung. Ich musste noch weitere zehn Minuten warten, bis er schließlich kam. Er war völlig leer. Ich stieg ein und ließ mich auf einen Platz am Fenster fallen. Erst wollte ich mich wieder in die letzte Reihe setzen, wie ich es jedes Mal tat, wenn ich mit dem Bus fahren musste. Von dort konnte man immer so gut die anderen Leute beobachten. Aber der Bus fuhr relativ schnell los, und da war es mir etwas zu wackelig, um mit meinen Krücken den Gang entlang zu humpeln. Also blieb ich weiter vorne.

Ich sah auf die Uhr. Es war halb neun. Um neun hatte ich mich verabredet. Ich würde zu spät kommen. Naja, der Film fing ja auch erst um halb zehn an. Und Kai würde es schon verstehen, wenn ich mich verspätete. Er verstand so etwas immer. Außerdem war es ja auch nicht meine Schuld.

Der Bus war jetzt schon an drei Haltestellen vorbeigefahren ohne zu stoppen. Wenn das so weiter ging, konnte ich es vielleicht doch noch rechtzeitig schaffen.

Aber ich hatte Pech. Oder Glück, wie sich später herausstellen sollte. Der Bus blinkte und hielt an. Nur ein einziger Fahrgast stieg ein. Und dieser Fahrgast war ausgerechnet Lou. Ich wunderte mich etwas, dass er mit dem Bus fuhr. Hatte er keinen Chauffeur? Ich dachte, ein Prinz müsse einen haben.

Bis heute weiß ich nicht, warum Lou damals mit dem Bus gefahren ist, oder wohin er gewollt hat. Aber es war mein Glück, dass er es getan hat.

Lou musterte mich und nickte mir kurz zu. Dann setzte er sich, einige Reihen vor meinem Platz, hin. Er sagte nichts, und so sprach auch ich ihn nicht an.

Wir fuhren weiter, alles war ganz normal. Doch plötzlich passierte es.

Später hieß es in der Zeitung, der Busfahrer, ein etwas älterer Mann, hätte einen Schwächeanfall erlitten und so die Kontrolle über den Bus verloren.

Ich weiß nicht, ob das stimmt, oder ob er einfach nur müde gewesen und eingenickt ist. Wie auch immer, jedenfalls raste der Bus plötzlich in einer Kurve geradeaus weiter, brach durch die Begrenzung der Fahrbahn, schlitterte über einen staubigen Parkplatz, überschlug sich mehrmals und prallte schließlich gegen einen parkenden Lkw.

Ich wurde hin und her geschleudert, aus meiner Sitzreihe gerissen und endlich gegen das Seitenfenster geworfen. Dann wurde es schwarz vor meinen Augen.

 

Das nächste, an das ich mich erinnern kann, ist, dass mich jemand an den Schultern hochzog. Es war furchtbar heiß und ich konnte kaum atmen.

Als ich die Augen vorsichtig öffnete, wurde ich von einem riesigen Flammenmeer geblendet. Die Sitze, Polster, Lehnen, einfach alles stand in Flammen. Überall war Feuer und dichte Rauchschwaden hingen in der Luft. Es stank unsäglich nach geschmolzenem Plastik.

Ich erspähte schemenhaft die Umrisse eines Mannes. An den weiten Ärmeln seines Hemdes, die mein Gesicht streiften, erkannte ich in ihm Lou. Er war es, der mich an den Schultern festhielt und gerade versuchte, mich aufzurichten. Dann sah er, dass ich die Augen wieder geöffnet hatte, und sagte: „Los, raus hier.“

Soviel Selbstbeherrschung, oder was sonst auch immer es gewesen sein mag, war mir unbegreiflich. Lou stand inmitten eines tödlichen Flammenmeeres, und er sagte diese Worte zu mir. Er war vollkommen gelassen. Als habe er keine Angst, keine Angst, verletzt zu werden, keine Angst zu verbrennen, keine Angst zu sterben. Er schrie nicht, keuchte nicht, hustete nicht. Es lag nicht einmal etwas Aufregung in seiner Stimme.

Während Lou so völlig ruhig blieb, war ich kurz davor, in kopflose Panik auszubrechen. Überall, wo ich auch hinsah, nichts als Flammen! Man konnte rein gar nichts sehen. Ich wusste nicht, wo vorne und wo hinten war. Ich spürte nicht einmal festen Boden unter mir. Wer würde in so einer Situation nicht die Nerven verlieren?

Aber das durfte ich nicht. Ich durfte mich jetzt nicht gehen lassen! Das war das einzige, was ich wusste. Es hämmerte in meinem Kopf immer wieder: ‚Bleib ruhig! Bleib ruhig!’ Und ich versuchte zu gehorchen.

Ich riss mich zusammen. Schließlich schaffte ich es mit Lous Hilfe auf die Beine zu kommen. Und als ich dann endlich stand und er mir eine Hand auf die Schulter legte, hatte ich mich plötzlich so weit beruhigt, dass ich beinahe vergessen hatte, dass der ganze Bus um mich herum brannte. Es spielte einfach keine Rolle mehr.

Lou deutete nach oben. „Da hinauf!“ Erst jetzt merkte ich, dass der Bus anscheinend auf der Seite lag.

Mir wurde schwindelig von dem vielen Qualm. Er brannte in meinen Augen und in meiner Lunge. Aber ich hatte keine Angst mehr. Es machte mir nichts aus. Ich wusste, mir würde nichts passieren. Und wenn doch – was machte das schon? Es klang für mich nicht mehr schlimm, sondern eher verlockend. Faszinierend.

Aber ich sollte nach oben klettern. Das hatte Lou gesagt. Klettern? Mit meinem Fuß? Zweifelnd versuchte ich ihn anzusehen. Meine Augen tränten.

„Es geht schon. Ich helfe dir. Warte!“ Damit stieg er auf die Armlehne des Sitzes. Warten. Gerne. Gar kein Problem!

Die Flammen und der Rauch wurden immer dichter. Ich konnte nicht sehen, was Lou tat, aber dann hörte ich Glas splittern. Er hatte die Fensterscheibe eingeschlagen.

„Vorsicht!“ kam es von oben. Irgendwas flog mir vor die Füße. Es war der Nothammer. Ich war versucht ihn aufzuheben und mitzunehmen. Aber ich tat es nicht.

Stattdessen lehnte ich mich etwas zur Seite. Was konnte da noch alles kommen? Ich versuchte, Lou zu beobachten, konnte allerdings kaum etwas erkennen.

Dann knackte es schließlich noch ein paar Mal, gefolgt von einem Scherbenregen, der neben mir nieder prasselte, und Lou sprang wieder zu mir herunter. „Los, rauf jetzt!“ Er gab mir Hilfestellung, und ehe ich mich versah, saß ich schon oben auf dem Dach, beziehungsweise der Seite des Busses. Das Metall war so unerträglich heiß, dass ich die Beine unterschlug und mich auf meine Füße setzte.

Ich war an der Luft. Ich konnte wieder atmen. Und auf einmal fühlte ich mich rundum wohl. Alles war ganz wunderbar. Ich war wirklich richtig glücklich. Die Tatsache, dass es da unter mir brannte und dass ich eben wahrscheinlich um ein Haar dem Tod entronnen war, rückte in unerreichbare Ferne. Ich hatte es vergessen.

Ich wusste nur noch, dass ich hier oben saß, die Sonne dort hinten unterging, der Himmel sich blutrot färbte und ich das alles sehen konnte.

Vielleicht hatte ich zu viel Rauch eingeatmet, vielleicht war ich auch nur durch die Aufregung und übermächtige Angst ein bisschen verrückt geworden. Jedenfalls wünschte ich mir, ewig so sitzen zu können. Nur hier sitzen und der Sonne zusehen, wie sie langsam starb. Das war so einmalig schön, und etwas anderes zählte für mich gar nicht mehr.

‚Vielleicht würde Lou das auch wollen,’ fuhr es mir durch den Kopf. Aber der Gedanke war nur unklar, denn mein Gehirn war etwas benebelt. Ich versuchte, mich zu konzentrieren.

Lou? Meine Gedanken wanderten zu ihm hinunter. Ich wunderte mich darüber, dass er stark genug gewesen war, mir hier herauf zu helfen. So hatte er nicht ausgesehen. Ganz und gar nicht.

Langsam wurde es unangenehm. Es wurde immer schwerer, die heiße Luft zu atmen, und meine Füße brannten, als stände ich auf glühenden Kohlen. Auch mein etwas betäubter Zustand konnte das langsam nicht mehr überdecken. Ja, betäubt, das war ich. Das war alles an mir.

Die Hitze wurde unerträglich. Es war mir fast nicht mehr möglich, das Metall unter mir nur zu berühren. Wie in Zeitlupe sah ich, dass jetzt auch Lous Oberkörper aus dem eingeschlagenen Fenster kam. Durch den Rauch konnte ich ihn nur verschwommen erkennen, obwohl er direkt vor mir erschien.

Wie viel Zeit war vergangen? Wohl nicht sehr viel. Eine oder zwei Minuten vielleicht. Nicht mehr. Ich hätte Lou gerne gefragt, aber ich spürte, dass jetzt wahrscheinlich nicht der richtige Moment dafür war.

Lou zog sich ganz auf das Dach hoch und glitt neben mich. Er war auch draußen.

Ich hörte Sirenen, die lauter und lauter wurden. ‚Die Feuerwehr. Interessant. Lange haben die nicht gebraucht. Wer hat sie wohl gerufen?’ dachte ich.

„Und jetzt – springen!“ Lou stand auf und sah mich auffordernd an.

Ich aber starrte ihn nur regungslos an. Ich konnte einfach nichts anderes tun. Ich glaube, ich begriff nicht einmal wirklich, was eigentlich passiert war. Es war alles still und angenehm in meinem Kopf. Lous Worte drangen nur mit großer Verzögerung in mein Hirn vor.

Da packte Lou mich kurzerhand am Pullover und zog mich hoch. Ich wehrte mich nicht dagegen. Ich wunderte mich nur erneut, wie kräftig dieser schlanke, geschmeidige Fremde in Wirklichkeit war.

Als ich dann endlich stand, sah ich zwei Krankenwagen, die Polizei und auch die Feuerwehr auf den Parkplatz einbiegen. Ihre Blaulichter huschten über unsere Gesichter. Lous Miene war völlig regungslos. Das Feuer spiegelte sich flackernd in seinen Augen.

„Los!“ Er schob mich zum Rand. „Los!“ Ich begriff, was er von mir wollte, und gehorsam sprang ich hinunter in den Staub, wo ich hart aufprallte.

Plötzlich war ich völlig geschafft und blieb einfach liegen. Mein Fuß tat wieder höllisch weh und meine Lungen brannten fürchterlich. Es war, als hätte der harte, kühle Boden mir meinen Verstand, meinen Körper wiedergegeben.

Ich hatte mit einem Mal das Gefühl, wenn ich mich jetzt auch nur bewegte, würde ich ganz einfach auseinanderfallen. Wie ein altes, verkohltes Stück Holz.

Ich dachte, Lou müsse sich ebenso fühlen, öffnete die Augen und erwartete zu sehen, dass er völlig erschöpft und zerschlagen neben mir lag.

Aber weit gefehlt! Ich sah viel mehr, dass Lou einfach aufstand, sich den Staub von den Kleidern klopfte und langsam verschwand. Er humpelte. Ich konnte es genau sehen. Aber ich hatte gedacht, er hätte sich mehr getan. „Also schwach ist er nicht. Und zerbrechlich auch nicht,“ murmelte ich in mich hinein.

Ich stützte mich auf meine Arme um mich aufzurichten. „Lou!“ wollte ich rufen. Aber ich hustete nur. Dann war er auch schon verschwunden. Vom Parkplatz weg, die Straße zurück. Er hatte sich nicht ein einziges Mal umgedreht.

Erschöpft ließ ich mich auf die Seite fallen, rollte mich etwas zusammen und schloss die Augen. Ich war nur noch müde, so unglaublich müde. Ich spürte das Brennen in meiner Lunge nicht mehr, und auch nicht, dass meine Augen tränten. Ich wollte einfach nur noch hier liegen und schlafen, mich ausruhen und die Welt Welt sein lassen.

Beinahe wäre ich tatsächlich eingeschlafen, doch auf einmal wimmelte der Unfallplatz vor lauter Menschen. Ärzte, Sanitäter, Feuerwehrmänner und Polizisten, alle liefen hin und her, blieben stehen, riefen einander irgendwelche Dinge zu. Es war unglaublich laut um mich herum.

Die Männer aus dem Rettungswagen knieten sich neben mich. Sie ermahnten mich immer wieder, wach zu bleiben, brachten mich schließlich in einen der beiden Krankenwagen und fingen an, mich zu untersuchen und zu versorgen.

Der zweite Krankenwagen stand direkt neben dem ersten, in dem ich lag. Ich hörte, wie er davon fuhr. Wir selber blieben stehen.

Ein Arzt sprach mit mir. Es klang, als wäre er unheimlich weit entfernt. Er kam mir irgendwie bekannt vor. Aber mir war so schlecht, dass ich mich nicht konzentrieren konnte. Alles, was ich verstand, war, dass auch wir ins Krankenhaus fahren würden. Und dass er mich mit meinem Namen anredete. Dann hustete ich nur noch und hörte und sah nichts mehr.

Erst später erfuhr ich, dass der Arzt Dr. Finn gewesen war. Er war einer der höhergestellten Ärzte in der Klinik meines Vaters. Er war mit Dad befreundet und auch schon einige Male bei uns zu Besuch gewesen. Daher kannte er mich.

Es war pures Glück, dass das Casa in dieser Woche den Notdienst übernommen hatte. In der Nachbarstadt gab es ebenfalls ein Krankenhaus, und die beiden Kliniken wechselten sich regelmäßig ab.

 

Als die Männer mich wenig später in die Notaufnahme schoben, presste einer mir ein Sauerstoffgerät ins Gesicht. Ich wollte es wegschlagen, aber ich bekam den Arm nicht hoch. Also musste ich alles Wohl oder Übel über mich ergehen lassen. Erschöpft schloss ich die Augen.

Jemand schüttelte mich und rief mir zu, ich dürfe nicht einschlafen. Immer wieder ermahnte er mich. Aber das kümmerte mich nicht mehr. Die Stimmen wurden leiser und leiser und ich schlief endlich ein.

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