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Kapitel VII
Von dimitrikalaschnikov, 13.08.2007, 09:12


Hey God – tell me what the hell is going on? Seems like all the good shits gone. It keeps on getting harder hanging on. Hey God, there’s nights you know I want to scream. These days you even harder to believe. I know how busy you must be, but hey God…Do you ever think about me?”

Jon Bon Jovi

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Als meine Eltern am nächsten Morgen nach Hause kamen, waren sie bestürzt und schockiert. Meine Mutter machte mir zuerst Vorwürfe, dass ich sie nicht angerufen hatte. Als ich aber nicht antwortete, kam sie mit Tränen in den Augen auf mich zu und versuchte, mich in den Arm zu nehmen.

Doch ich stieß sie von mir. Ich konnte keine Nähe ertragen. Für einen kleinen Moment war ich sogar auf dem besten Weg so zu werden wie Lou.

Aber dann sah ich Moms Gesicht und die Angst und den Schrecken darin, und es tat mir Leid, sie abgewiesen zu haben. Doch ich konnte nicht anders. Es tat so unendlich weh.

Mom, ich – ich kann jetzt nicht.“ Damit drehte ich mich um, rannte die Treppe hinauf und schloss mich in meinem Zimmer ein.

Ich war völlig fertig. Nicht nur psychisch, auch physisch. Meine Mutter kam hinter mir her und stand wohl zehn Minuten vor meiner Tür. Immer wieder rief sie meinen Namen, doch ich antwortete ihr nicht einmal. Ich war die ganze Nacht über aufgewesen und fühlte mich jetzt, als wäre ich unter die Räder eines Lkws gekommen.

Ich hatte bis in den frühen Morgen hinein draußen im Garten unter unserem Baum gesessen und gegrübelt. Mir waren sehr viele, oft auch absurde Gedanken durch den Kopf geschossen. Zum Beispiel hatte ich plötzlich wieder daran denken müssen, was mein Großvater mir vor Jahren einmal gesagt hatte:

Das Leben ist wie eine Parkbank, mein Junge! Menschen kommen und gehen an dir vorbei. Manche halten einen Moment an, setzen sich zu dir und verbringen etwas Zeit mit dir. Aber schließlich stehen sie alle einfach wieder auf, vielleicht wollen sie es, vielleicht müssen sie es aber auch, und gehen weiter, lassen dich alleine sitzen. Kaum einer bleibt länger bei dir als ein paar kurze Minuten.“

Das war ein paar Tage nach dem Tod meiner Großmutter gewesen. Ich hatte meinen Großvater nicht angesehen, denn sonst hätte er mein Unverständnis und meine Skepsis auf meinem Gesicht entdecken können. Und das wollte ich nicht, weil immer alles, was mein Großvater jemals gesagt hatte, wahr und für mich so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz gewesen war.

Auch jetzt war es nur das kindliche und relativ unbeschwerte Gemüt eines 6jährigen Jungen, der den Sinn dieser Worte nicht richtig begreifen konnte, das mich zweifeln ließ.

Doch ich glaube, in dieser Nacht, fast 14 Jahre später, verstand ich meinen Großvater. Ich war auch einfach sitzen gelassen worden. Und ein neues Gesetz war geschrieben.


Am Nachmittag kamen zwei Polizisten zu uns. Sie fragten mich, ob ich von irgendwelchen Problemen wüsste, die Kai gehabt hätte. Als ich verneinte, sah der eine Beamte mich skeptisch an. Er glaubte mir nicht, und das gab er auch offen zu.

Sind Sie sicher, dass da nichts war? Seine Eltern haben angegeben, dass Sie der beste Freund des Verstorbenen waren. Und da wussten Sie von nichts?“ „Der beste Freund? Haben sie das gesagt? Ich weiß nicht, ob ich das war. Wirklich nicht. Es tut mir Leid, aber ich glaube, ich kann Ihnen nicht helfen.“

Ich hatte beschlossen, nichts zu sagen. Ich würde ihn nicht verletzen wie er mich verletzt hatte. Und außerdem – was sollte ich auch schon sagen? Die ganze Geschichte klang viel zu sehr nach der Story eines mittelmäßigen Groschenromans.

Und ich wusste, auch Lou würde niemals etwas verraten. In der letzten Nacht hatten wir einen Pakt geschlossen, an den wir uns beide halten würden.


Ich weiß nicht mehr, wie ich es anstellte, aber irgendwie schaffte ich es, Kai schon in den nächsten Tagen zu vergessen. Oberflächlich jedenfalls. Ich verbannte einfach jeden Gedanken an ihn aus meinem Gehirn. Es tat mir zu weh, mich mit seinem Tod und meiner Schuld daran auseinandersetzen zu müssen.

Nur in der Nacht, wenn ich schlief und träumte, erstand er wieder von den Toten auf. Es waren immer schlimme, bedrückende Alpträume, aus denen ich meist mit einem erstickten Schrei und schweißgebadet erwachte. An einen erinnere ich mich noch sehr gut. Ich träumte ihn Jahre hindurch immer wieder und er war einer der schrecklichsten:

Ich gehe mit Kai über einen Platz oder eine breite Straße, ich weiß es nicht genau. Ich habe die Hände in den Hosentaschen und schaue auf den Boden, und obwohl ich Kai nicht sehe, weiß ich, dass er direkt neben mir hergeht.

Er sagt etwas, ich antworte ihm, und plötzlich schreien wir uns an. Wir bleiben wild gestikulierend stehen, und aufgebracht streitend werfen wir uns gegenseitig Tausende unwichtiger Kleinigkeiten vor. Schließlich brülle ich: „Wie konntest du mir das nur antun!?! Ich hasse dich!“ Und er schweigt nur noch.

Ich weiß selbst nicht, was ich meine, denn Kai lebt ja und hat gar nichts getan. Dann drehe ich mich einfach um und gehe weg. Kai bleibt zurück. „Verzeih deinem Bruder!“ Er flüstert, aber ich höre es trotzdem. Die Luft scheint erfüllt zu sein von seinen Worten. „Nein! Niemals!“ brülle ich zurück. Ich sehe mich nicht einmal nach ihm um.

Und plötzlich ist da, wie als Reaktion auf meinen Ruf, ein riesiger Lärm hinter mir. Ich möchte wegrennen, aber es geht nicht. Gegen meinen Willen drehe ich mich dorthin um, wo der Krach herkommt, und sehe das alte Haus vor mir, in dem ich mit Kai früher oft gespielt habe. Es ist wie aus dem Nichts aufgetaucht.

Dann kracht es noch einmal unheimlich, und das ganze Gebäude stürzt in sich zusammen. Es bleibt nichts übrig als eine Unmenge an Staub.

Und in diesem Moment überkommt mich eine so furchtbare Angst, wie man sie sich kaum vorstellen kann. Ich stehe vor diesem Trümmerfeld, unfähig, mich zu rühren, denn ich weiß, dass Kai in das Haus hineingegangen ist. Ich habe es nicht beobachtet, aber ich weiß es einfach. Ich spüre es mit jeder einzelnen Faser meines Körpers.

Regungslos starre ich dieses Chaos aus Dreck, Steinen und Beton an. Dann plötzlich taucht in dem Staub eine Gestalt auf. Ich kann sie nicht deutlich erkennen, aber ich weiß, dass es Lou ist. Es sieht so aus, als würde er in einem Nebel stehen, der sich langsam verzieht.

Unbeweglich steht er da, wie eine Statue. Dann hebt er langsam den Arm. Er deutet irgendwohin, und als ich seinem Arm mit meinem Blick folge, sehe ich Kais Gestalt durch die Staubwolken auf mich zu wanken. Sofort ist Lou, ist seine Anwesenheit völlig vergessen. In meinem Kopf ist nur noch Kai, mein Freund Kai, der mir da entgegen kommt und der mich bald erneut verlassen wird. Ich weiß, dass er es tun wird. Kai wird wieder gehen. Er wird mich wieder verraten.

Verzweifelt will ich ihm entgegen rennen, will bei ihm sein, bevor es zu spät ist, wenigstens dieses eine Mal – aber ich komme nur im Zeitlupentempo vorwärts, egal wie sehr ich mich auch bemühe. Dann endlich bin ich da, schließe Kai in die Arme und weine, weine, weine.

Es tut mir Leid! Es tut mir so Leid!“ Ich spüre, wie er erschlafft und sein Griff sich lockert. Aber ich lasse nicht los, ich halte ihn fest, mein Gesicht an seinen Hals gepresst, mit der rechten seinen Kopf stützend, mit der Linken seinen leblosen Körper an mich drückend.

Ich schaue noch einmal auf und sehe durch meine Tränen hindurch schemenhaft Lous Umrisse. Und dann wird alles dunkel. Alles ist fort, nur wir, mein Freund Kai und ich, nicht. Und da ist nichts mehr als Kälte um uns, Wärme zwischen uns und Tränen. Die Dunkelheit hüllt uns ein, die Kälte lässt mich erschauern, die Wärme nimmt mir die Luft zum Atmen und die Tränen, die Tränen schwemmen mich fort, wie ein tiefer, reißender Strom, in dem ich irgendwann ertrinken muss.


In Panik wachte ich jedes Mal auf. Ich brauchte immer ein paar Minuten, bis ich begriff, dass ich nur wieder geträumt hatte. Dann lag ich lange wach, weil ich mich nicht traute, mich wieder dem Schlaf und seinen Gefahren hinzugeben.

Einmal, ein einziges Mal nur, erzählte ich meiner Mom von meinen Träumen. Sie machte sich daraufhin unheimliche Sorgen, sprach mit Dad und meinte immer wieder: „Ich habe dir doch gleich gesagt, dass wir fachmännische Hilfe brauchen, Gabriel!“

Aber ich wehrte mich permanent dagegen, einen Psychiater aufzusuchen. Schließlich behauptete ich irgendwann, die Träume hätten aufgehört. Obwohl das nicht der Fall war. Ich wollte nur einfach endlich in Ruhe gelassen werden. Sie kamen wieder und wieder und wurden von Mal zu Mal schlimmer. Nächtelang lag ich wach und hoffte mit weit aufgerissenen Augen, nicht einschlafen zu müssen. Und wenn ich es dann doch tat, starb ich fast vor Angst.

Aber auch das alles gab sich mit der Zeit. Die Träume wurden wieder seltener, nahmen an Bedrohlichkeit ab und hörten schließlich bis auf wenige grausame Ausnahmen völlig auf.


Am Montag nach Kais Tod, am ersten Tag im neuen Halbjahr, ging ich gegen den Willen meiner Eltern in die Schule. Sie hätten es lieber gesehen, wenn ich zu Hause geblieben wäre oder etwas mit ihnen unternommen hätte. Sie wollten mich gerne im Auge haben. Aber ich ließ mich nicht halten.

Ich war einer der letzten in der Klasse. Normalerweise fuhr mein Vater mich jeden Morgen zur Schule, doch an diesem Morgen ging ich zu Fuß. Ich brauchte die Ruhe und die Zeit für mich. Der Schulweg bot mir einen kurzen Augenblick, in dem ich verschnaufen konnte. Ich ging das erste Mal zu Fuß und ich habe es auch nie wieder anders gemacht.

Als ich die Tür zu unserem Klassenraum öffnete, wurde es schlagartig still. Alle starrten mich an und keiner sagte einen Ton. Ich hasste diese Stille. Wie schwach und elend meine Mitschüler wirkten. Ich ließ meinen Blick verächtlich durch den Raum schweifen. Alle wichen mir aus.

Langsam bewegte ich mich auf meinen Platz zu und ließ mich nieder. Lou war noch nicht da. Ich fragte mich, ob er überhaupt kommen würde.

Doch da ging die Tür auf und er betrat den Raum. „Morgen.“ Erleichtert atmete ich auf. Wenigstens er war normal. Er schien gar nicht zu merken, wie verlegen die anderen waren. Keiner außer mir antwortete ihm.

Lou kam auf mich zu, blieb kurz überrascht stehen, trat dann aber zu dem Tisch zu meiner rechten und setzte sich hin. Ohne es zu merken, hatte ich ihm Kais Platz eingeräumt.


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