Beeplog.de - Kostenlose Blogs Hier kostenloses Blog erstellen    Nächstes Blog   


    Searching
 

Du befindest dich in der Kategorie: Allgemeines

Donnerstag, 09. August 2007

Kapitel IV, zweiter Teil
Von dimitrikalaschnikov, 07:33

 

Am Morgen erwachte ich früh. Ich fühlte mich gut, ausgeschlafen und wieder relativ fit. Außer ein paar blauen Flecken, ein bisschen Kopfschmerzen und Heiserkeit war alles in Ordnung.

Ich stand auf und wollte mich anziehen. Erst da fiel mir ein, dass meine Eltern mir noch keine neuen Sachen gebracht hatten. Das wollten sie erst heute früh tun, denn sie waren gestern direkt aus dem Restaurant hierher gekommen.

Also zog ich mir notgedrungen meine alten Sachen wieder an. Sie stanken nach Rauch, waren staubig und an manchen Stellen leicht angesengt. Mein Shirt war noch halbwegs in Ordnung, aber mein Pullover – er war vorher weiß gewesen, jetzt aber dreckig grau, und vorne, dort, wo Lou mich hochgezogen hatte, war der blutige Abdruck seiner Hand zu sehen.

Als ich es entdeckte, verdrehte ich die Augen. Ich wurde einerseits unruhig, andererseits aber gleichzeitig auch sauer. Sein Verhalten war unverantwortlich.

Lou hatte nicht richtig auftreten können. Und er hatte geblutet, sich wahrscheinlich an den Scherben der Scheibe geschnitten. Aber dieser Idiot war weggelaufen! Wenn er nun doch schwerer verletzt war? Gut, es hatte absolut nicht danach ausgesehen. Aber möglich war es schließlich schon. Wenn er es nun nicht bis nach Hause geschafft hatte? Verdammt, dieser Idiot!

Alle Gedanken an Krankfeiern und sich umsorgen lassen, die ich vorher gehabt hatte, waren vom Tisch. Ich musste nach Hause. Und dann musste ich herausfinden, was mit Lou passiert war. Immerhin verdankte ich ihm mein Leben.

Ich knüllte meinen Pullover zusammen und wollte gerade aus dem Zimmer humpeln, da ging die Tür auf und meine Eltern traten ein. Meiner Mutter blieb vor Entsetzen der Mund offen stehen als sie mich sah.

„Mitja, was machst du!?!“ Erschrocken hielt mein Vater mich fest. „Dad, ich will nach Hause. Jetzt. Sofort. Mir geht es gut und ich werde nicht länger hier bleiben!“

Damit waren meine Eltern aber leider gar nicht einverstanden. Wir lieferten uns eine heftige Schlacht, bei der ich zu Anfang alleine gegen die beiden stand. Doch dann musste mein Vater endlich zugeben, dass es eigentlich medizinisch gesehen nichts gab, was gegen mein Verlassen der Klinik sprach, zumal er mich auch Zuhause im Auge behalten konnte. Ich hatte bei dem Unfall dank Lou schließlich außer ein paar blauen Flecken nichts abbekommen.

Nun standen wir beide meiner Mutter gegenüber, und nachdem ich versprach, mich Zuhause brav hinzulegen, gab sie endlich nach. Die erste Hürde war damit genommen. Es ging nach Hause.

 

Am Nachmittag kam Kai mich besuchen. Er war sehr besorgt und stimmte mit meiner Mutter völlig darin überein, dass ich mich nicht anstrengen durfte. Es wurde also zuerst ein richtiger Krankenbesuch wie er im Buche steht.

Aber zum Glück wurde Kai mit der Zeit etwas lockerer. Wir spielten eine Runde Karten und aßen haufenweise Eis mit Sahne. Zum Schluss war es richtig cool und wir hatten eine Menge Spaß. Von Leon und Max hörte ich nichts. Aber das hatte ich auch eigentlich nicht erwartet.

 

Nachdem Kai wieder gegangen war, machte ich mich daran, die zweite Hürde zu nehmen. Ich musste in die Schule! Unbedingt! Ich wollte sehen, was mit Lou war. Nein, ich musste es sehen. Ich hatte wegen ihm richtige Schuldgefühle. Aber von Zuhause aus konnte ich ihn nicht erreichen. Ich kannte schließlich weder seine Adresse noch seine Telefonnummer.

„Mom, ich gehe morgen wieder in die Schule.“ Sie war entsetzt. „Was? Mitja, das geht doch nicht! Du bist krank!“ „Nein, Mom, mir geht es bestens!“

Es ist schon verrückt. Sonst bettelt man immer seine Eltern an, dass man zu Hause bleiben darf, und jetzt redete ich so lange auf meine Mutter ein, bis ich in die Schule gehen durfte. Und das dauerte. Sie wollte es einfach nicht erlauben! Ich brauchte zwei geschlagene Stunden, und erst als ich ihr androhte, ich würde die ganze Zeit, die ich Zuhause verbringen musste, nicht mehr mit ihr sprechen, gab sie schließlich nach.

 

Am nächsten Morgen war ich zum ersten Mal in meinem Leben der Erste in der Klasse. Ich wartete und wartete, alle anderen trudelten nacheinander ein, aber kein Lou kam. Ich wurde langsam ungeduldig. Warten war noch nie meine Stärke gewesen.

Schließlich fragte ich Leon nach ihm. „Der? Keine Ahnung, wo der steckt. War auch gestern nicht da. Hat bestimmt irgendwie Wind von der Begrüßung gekriegt!“

Die Begrüßung! Richtig! Die hatte ich ja ganz vergessen. Noch etwas, das geklärt werden musste. „Leon, wenn er morgen kommen sollte: Die Begrüßung fällt vorerst aus.“ „Was? Wieso das denn?“ „Ich hab da so meine Gründe. Erzähl ich dir vielleicht später mal.“ „Achtung! Dorle!“ kam da gerade der Warnruf. Sofort saßen alle auf ihren Plätzen.

Dorle ließ wie gewöhnlich ihre Strafpredigt los, doch dieses Mal konnte ich mich gar nicht richtig daran erfreuen. Ich war viel zu sehr mit Lou beschäftigt. Ich fuhr erst aus meinen Gedanken hoch, als Dorle mich an der Schulter berührte.

„Dimitri, was ist denn heute los mit Ihnen?“ Sie schien ehrlich besorgt zu sein. „Wie? Nichts, Fräulein Dorle, nichts. Mir ist nur nicht gut. Kann ich – kann ich Sie vielleicht nach der Stunde einmal sprechen?“ Sie sah mich erstaunt an. „Natürlich, Dimitri.“

Ich hatte zwar etwas geschwindelt, als ich sagte, mir ginge es nicht gut, aber das machte ja nichts. Es hatte seinen Sinn erfüllt. Und plausibel war es ja auch. Schließlich hatte ich in letzter Zeit viel gefehlt. Jedenfalls ließ Fräulein Dorle mich den Rest der Stunde in Ruhe.

Als es endlich läutete, ging ich nach vorne. Alle anderen hatten den Raum schon verlassen.

„So, Dimitri, was ist denn?“ „Fräulein Dorle, ich brauche Ihre Hilfe.“ Ich hatte mir in der Stunde alles genau überlegt und festgestellt, dass es am besten war, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich kannte sie gut genug um zu wissen, dass ich ihr vertrauen konnte. Auch wenn sie nur meine Deutschlehrerin war.

„So? Was kann ich denn für Sie tun?“ „Wissen Sie, es ist ziemlich privat, und es wäre gut, wenn Sie es niemandem erzählen würden.“

Sie nahm ihre Brille ab und musterte mich erstaunt. „Was ist es denn? Keine Angst, ich werde nichts sagen, solange ich es mit meinem Gewissen vereinbaren kann.“ „Das können Sie. Sie wissen, dass ich gestern gefehlt habe? Und sicherlich haben Sie auch von dem Busunglück gehört?“ „Ja, natürlich. Es stand ja in der Zeitung. Schrecklich, was da alles hätte passieren können! Aber zum Glück ist ja noch einmal alles gut gegangen.“ „Das ist es eben. Ich war bei dem Unfall dabei.“ „Sie?“ „Ja, ich. Und – Sie haben doch sicher auch gelesen, dass ein dritter Mann verschwand?“ „Ja, das habe ich. Eine äußerst mysteriöse Angelegenheit.“ „Dieser dritte war Lou. Er hat erst den Fahrer und mich aus dem Bus geholt und ist dann einfach abgehauen.“

Ich erzählte ihr die ganze Geschichte. Verblüfft hörte sie mir zu. Dann bat ich sie: „Könnten Sie mir vielleicht Lous Adresse geben? Ich würde gerne wissen, ob er dort ist und wie es ihm geht.“ „Natürlich gebe ich sie Ihnen! So was!“

Sie schrieb mir die Adresse auf und beurlaubte mich, weil ich bemerkte, mir ginge es immer noch nicht besser, für den Rest des Tages. Und als ich dann sagte, dass ich nicht wüsste, wie ich nach Hause kommen sollte, ließ sie sich nicht davon abbringen, mir auch noch ein Taxi zu rufen.

Auf einmal gefiel sie mir außerordentlich gut. Nett hatte ich sie zwar vorher auch schon gefunden (obwohl ich mir das natürlich niemals hätte anmerken lassen), aber sie war eben immer nur meine Deutschlehrerin gewesen. Plötzlich war sie ein Mensch geworden.

 

Zufrieden machte ich mich dann auf den Weg. Allerdings nicht nach Hause, sondern zu Lou.

Wenn ich erwartet hatte, eine prunkvolle Villa oder etwas ähnliches vorzufinden, hatte ich mich gründlich geirrt. Eher das Gegenteil war der Fall.

Lou wohnte in einem abgeschiedenen Teil der Stadt, gar nicht einmal so weit entfernt von uns. Seine Wohnung war in einem schmalen, mehrstöckigen Haus, mit einer vom Alter gedunkelten Fassade und symmetrisch angelegten Fenstern in breiten Holzrahmen.

Die schwere Eichentür war nur angelehnt. Ich betrat das Haus und stieg langsam die dunkle Treppe hinauf. Es war angenehm kühl im Flur, wie es bei solch alten Häusern ja sehr oft der Fall ist.

Auf jeder Etage las ich die Schilder an den Türen, fand aber erst im dritten und letzten Stockwerk eines, auf dem kein fremder Name zu sehen war, sondern nur ein Klebeband, das einen alten Schriftzug verdeckte. Ich beschloss, einfach zu hoffen, dass es die richtige Wohnung war.

Zögernd klingelte ich. Es dauerte etwas, dann hörte ich schwere Schritte kommen. Die Tür ging auf und ich sah einen etwa 40jährigen Mann, der ebenso fremdartig gekleidet war wie Lou. Da wusste ich, dass ich wenigstens an der richtigen Tür stand.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte der Fremde mit einer leichten Verbeugung. „Ich – ich wollte nur wissen, wie es Lou geht,“ stammelte ich irritiert. Der Mann verunsicherte mich. Zwar war sein Tonfall völlig normal, freundlich und höflich, doch er wirkte auf mich irgendwie suspekt. Etwas Unberechenbares schien aus seinem Blick zu sprechen. Ich konnte selbst nicht sagen, woher das kam.

Heute weiß ich, dass dieser Mann mir unter Umständen durchaus gefährlich hätte werden können. Sein Name war Remo und er war einer der ständigen Begleiter von Prinz Raben. Sein ganzes Leben hatte er schon in dessen Diensten gestanden. Ich möchte gar nicht wissen, was er alles für seinen Prinzen getan hat. Es müssen viele blutige Taten darunter gewesen sein, alle begangen, um den Prinzen und seine Familie vor Gefahren zu schützen. Remo war absolut loyal und das machte ihn für alle Gegner des Prinzen zu einem erbitterten Feind.

Die Scheu, die ich jetzt verspürte, blieb mir auch später noch eine ganze Weile erhalten. Über Jahre hinweg dachte ich jedes Mal, wenn ich diesen stillen, ergebenen Mann, der nie Kritik übte, oder sein freundliches Lächeln sah, daran, wie viel Blut wohl schon an seinen Händen kleben, wie viel Schuld er wohl schon auf seine Schultern geladen haben mochte.

„Es ist schon gut, Remo! Hallo, Dimitri.“ Lou trat hinter den Mann, der ihm sofort Platz machte. In der Tür stehend lächelte er. Er wirkte beinahe etwas verlegen, aber Verlegenheit hätte nicht zu ihm gepasst. Nur wusste ich das damals noch nicht und interpretierte ihn deshalb wohl falsch.

„Hallo, Lou.“ Er sah blass aus. Seine rechte Hand war dick verbunden und auf seiner Stirn klebten drei Pflaster. Aber sonst schien es ihm einigermaßen gut zu gehen. Das beruhigte mich etwas.

„Oder Lou Tibeht?“ „Nein, nur Lou. Komm doch rein.“ Seine Stimme klang heiser. „Gerne.“ Ich nickte und betrat die Wohnung. Sie war nichts besonderes, aber gemütlich. Es gefiel mir sofort.

Im Flur hing ein großer Spiegel an der einen Wand, darüber eine hölzerne Garderobe. An den zwei anderen Seiten waren drei Türen, eine, wie ich sehen konnte, zur Küche, daneben eine zum Badezimmer, und eine letzte, die ins Wohnzimmer führte.

Durch diese folgte ich Lou jetzt. Er bedeutete mir, mich auf einen Sessel zu setzen und ließ sich selbst auf das Sofa fallen. Dort streckte er sich lang aus und legte sich einen Eisbeutel auf die Stirn.

„Du musst entschuldigen, aber ich kann im Moment nicht so lange auf sein. Auch nicht sitzen.“ Er lächelte und machte mit seiner Hand eine vielsagende, kreisende Bewegung in der Nähe seines Kopfes. Etwas verunsichert blieb ich stehen.

„Ich wollte dich nicht stören.“ „Du störst mich nicht. Setz dich doch. Möchtest du etwas trinken? Wasser? Cola? Oder Tee? Kaffee vielleicht? Ich könnte dir auch ein Bier anbieten, aber ich glaube, für Alkohol ist es noch etwas zu früh.“ „Ja. Aber Wasser wäre wirklich gut. Danke.“ „Kein Problem.“ Er wollte sich erheben, um die Getränke zu holen, wurde aber von Remo, der plötzlich vor ihm stand, zurückgehalten. „Was wünschen Sie zu trinken, Amir?“ Da ließ Lou sich wieder zurücksinken. „Ich möchte bitte auch ein Glas Wasser.“ „Sehr wohl.“

Jetzt setzte ich mich und beobachtete, mehr aus Verlegenheit als aus Neugierde, wie Remo verschwand und gleich darauf mit zwei Gläsern wiederkam. „Danke.“ Während er sich verbeugte, trat er zurück. „Ich werde im Nebenzimmer sein, wenn Sie noch etwas brauchen, Amir!“ „Ist gut, Remo!“

Er verließ den Raum und Lou sah mich ernst an. „Was kann ich für dich tun, Dimitri?“ Nervös spielte ich an den Knöpfen meiner Jacke herum. Wie sollte ich es sagen? Und was sollte ich sagen? Ja, was wollte ich denn eigentlich hier? Und überhaupt – wie sollte ich ihn ansprechen? Mit ‚Prinz’? Oder mit ‚Amir’, wie dieser Remo es anscheinend tat?

Alles in mir sträubte sich dagegen. Schließlich war ich weder Lous Untertan noch sein Diener. Also beschloss ich, ihn ganz normal zu behandeln. So normal eben, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.

„Ich wollte mich bei dir bedanken. Ich schätze, du hast mir das Leben gerettet. Das war – ich weiß nicht, ob ich das auch gekonnt hätte.“ Er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Du bist nicht raus gekommen. Da musste ich halt rein. Vergiss es.“

Kurz glaubte ich zu verstehen, dass sein Leben ihm egal war. Dass er das Schicksal herausforderte. Und kurz machte es mir Angst.

Dann wieder lächelte er. Ich versuchte, nicht darauf zu achten, denn ich merkte, dass es mich erneut in seinen Bann ziehen wollte. Genau wie schon bei unserem ersten Treffen.

Schnell sah ich zu Boden. „Das kann ich zwar nicht einfach so, aber gut. Kein Wort mehr davon, wenn du nicht willst. Okay. Aber wieso bist du abgehauen? Ich denke, du hättest ein bisschen Hilfe auch gut brauchen können.“

Er runzelte skeptisch die Stirn. „Um dann in ein Krankenhaus gebracht zu werden? Nein, danke! Außerdem ging es mir ja auch gut.“ „So sah es aber gar nicht aus. Du hast geblutet. Und konntest nicht richtig auftreten. Und hast garantiert auch ziemlich viel Rauch eingeatmet. Genau wie ich. Das war schon verdammt riskant!“

Er verdrehte die Augen und fuhr sich, wie unter plötzlichen Schmerzen, mit der Hand an den Kopf. Das beunruhigte mich wieder, aber Lou sprach ungerührt weiter: „Komm, Dimitri, hör auf! Das durfte ich mir vom Prinzen schon anhören. ‚Lou, du bist der Thronfolger, du musst auf deine Gesundheit achten!’ Erst wollte er mich bei sich behalten. Aber das hätte mir gerade noch gefehlt. Ich komme nach Ludwin um unabhängig zu sein, und dann wohne ich in der Villa des Prinzen. Nein danke! Dann haben wir uns schließlich darauf geeinigt, dass Remo mich begleitet. So, jetzt weißt du eigentlich alles. – Wie geht es dir?“

Heute wundere ich mich darüber, dass Lou mir so früh schon so viel von sich erzählte. Es passt nicht zu ihm, so etwas zu tun. Aber damals fand ich es völlig selbstverständlich. Ein anderer hätte es schließlich auch getan. Ich vergaß, dass Lou nicht ‚ein anderer’ war.

Verlegen sah ich zu Boden. „Gut, mir geht es gut.“ Wir redeten noch eine Weile über belanglose Dinge, dann verabschiedete ich mich schließlich.

Lou brachte mich noch bis zur Tür. Ich reichte ihm die Hand und nach kurzem Zögern nahm er sie an. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das eine Auszeichnung war. Mehr konnte ich von diesem Fremden nicht erwarten. Mehr Kontakt konnte wohl kaum jemand von ihm erwarten.

Auf der Treppe drehte ich mich noch einmal um und fragte, einer plötzlichen Eingebung folgend: „Sag mal, hättest du nicht Lust, am Samstag mit ins Kino zu kommen? Ich würde dir gern einen Freund von mir vorstellen. Kai.“

Er lächelte, wohl zum hundertsten Mal an diesem Tag. Mir fiel auf, dass ich noch niemals jemanden getroffen hatte, der das so oft und so intensiv tat. Und es gefiel mir.

„Ins Kino? Klar, gern.“ „Gut. Dann bis morgen. Du kommst doch wieder?“ „Ich denke schon. Ist ja nur halb so wild. Also dann, bis morgen.“ „Ciao!“

 

Dieser Tag ist mir bis heute mehr oder weniger ein Rätsel. Ich kann nicht verstehen, wieso Lou sich so verhielt, wie er es tat. Schon alleine die Tatsache, dass er einem Wildfremden die Hand reichte, ist mir völlig unverständlich. Es gab schließlich einen Grund, warum er stets beide Hände verschränkte und sie unter den Ärmeln seines Hemds verbarg.

Lou ließ sich sonst nie einfach berühren. Er schreckte davor zurück und wich sorgsam jeder Gelegenheit eines Körperkontakts aus, sei es auch nur ein so kleiner wie ein einfacher, unverfänglicher Händedruck. Kaum jemand konnte etwas dergleichen von ihm erwarten, und mehr kam nur für sehr wenige Menschen in Frage.

Das alles hatte ich ja schon bei unserer allerersten Begegnung erfahren müssen. Und wie oft hörte ich später, in der ersten Zeit unserer Freundschaft, noch die Worte „Nicht anfassen!“ von ihm. Es ist nicht mehr zu zählen.

Man musste wirklich bereits Lous Freund sein, um nur alleine seine Hand berühren zu dürfen. Sonst wurde man selbst bei einer solch harmlosen, unverfänglichen Geste zurückgewiesen. Ich weiß nicht, warum das so war und ist. Ich weiß bei vielen Dingen, die Lou betreffen, nicht genau, woher sie kommen.

Aber ich weiß, dass in seinem Leben sehr viel schief gelaufen ist. Und das meiste davon lässt sich nicht mehr ausgleichen. Deshalb werden ihm auch nur sehr wenig Menschen zum Freund. Und ich bin stolz darauf, dass ich mich zu ihnen zählen darf.

 

Tja, und so änderte ich meine Meinung über Lou wieder. Am nächsten Morgen kam auch er wieder in die Schule und ich bat ihn, sich neben mich zu setzen. Er nickte zustimmend, packte seine Sachen und zog auf den Platz zu meiner linken. Ich blieb auf Kais Platz und überließ ihm meinen. Und dort blieb er auch an allen folgenden Tagen wie selbstverständlich sitzen. Weder er noch ich wollten etwas daran ändern.

Meine Mitschüler und meine Lehrer allerdings kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das hatte es noch nie gegeben, dass ich mich derart um einen Neuen kümmerte!

Sie konnten ja nicht wissen, dass dieser junge Mann einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben werden sollte. Ich selber wusste es schließlich auch noch nicht. Nur Dorle lächelte mir seit unserem Gespräch immer verständnisvoll zu, wenn sie uns zusammen sah.

Am Samstag stellte ich Lou dann meinem besten Freund Kai vor. Die beiden verstanden sich auf Anhieb gut und so wurde es ein wirklich lustiger Abend.

[Kommentare (0) | Kommentar erstellen | Permalink]




Kostenloses Blog bei Beeplog.de

Die auf Weblogs sichtbaren Daten und Inhalte stammen von
Privatpersonen. Beepworld ist hierfür nicht verantwortlich.

 


Navigation
 · Startseite

Login / Verwaltung
 · Anmelden!

Kalender
« Mai, 2024 »
Mo Di Mi Do Fr Sa So
  12345
6789101112
13141516171819
20212223242526
2728293031  

Kategorien
 · Alle Einträge
 · Allgemeines (13)

Links
 · Kostenloses Blog

RSS Feed