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Samstag, 11. August 2007

Kapitel V, zweiter Teil
Von dimitrikalaschnikov, 08:04

Die Tage verstrichen und schon war der 30. Mai gekommen. Unsere Party! Und gleichzeitig der Abschied von Kai, was dem ganzen für mich einen leicht wehmütigen Anstrich gab.
Der Abend fing gut an. Kai hatte dieses Jahr darauf verzichtet, sich eigene Freunde mitzubringen, und so standen er und Lou die ganze Zeit zusammen herum. Damit war mein größtes Problem, bei dem ‚Neuen’, der sich noch immer nicht wirklich in unsere Gemeinschaft integriert hatte, für Unterhaltung zu sorgen, auch vom Tisch.
Alles lief wie am Schnürchen. Meine Eltern waren auf einem Kongress über antike Architektur und wollten über Nacht wegbleiben. Wir hatten also das ganze Haus für uns alleine.
Es wurde ausgelassen gefeiert, und im Laufe des Abends fand auch der Inhalt so mancher Flasche Alkohol an seinen Bestimmungsort.
Irgendwann, es war wohl kurz nach Mitternacht, ging ich einmal hinaus um frische Luft zu schnappen, weil auch ich dem Alkohol nicht gerade abgeneigt gewesen und es mir infolgedessen im Haus zu warm geworden war.
Da sah ich Kai in einiger Entfernung am Ufer des Mississippi sitzen und auf das Wasser starren. Er war allein. Kein Lou zu sehen.
Ich ging zu ihm hin und setzte mich neben ihn. Es war dunkel, nur die Lampions mit ihren schwachen Lichtern erhellten die Nacht.
Leise drang die Musik des DJs zu uns herüber. Die plötzliche Stille betäubte mich regelrecht, und ich erschrak darüber, wie laut sich meine Stimme anhörte, als ich fragte: „Wo ist Lou?“ „Er sagte, er müsse noch einmal kurz weg.“ „Du kommst gut mit ihm aus, oder?“ „Ich – ich mag ihn.“ Die Antwort ließ mich zusammenzucken. Warum tat es mir nur so weh, dass er das sagte?
Ich wollte plötzlich nicht mehr über Lou reden. „Gefällt es dir? Macht’s Spaß?“ „Ja.“ Aber es hörte sich für mich nicht wirklich danach an.
Ich kann mich an diese Nacht erinnern, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich mich mit Kai unterhielt. Jede Kleinigkeit, jede einzelne, winzige Regung ist in mein Gedächtnis eingebrannt. Und doch ist es fast 30 Jahre her. 30 Jahre. Eine lange, lange Zeit.
Wenn ich heute die Augen schließe, sehe ich alles noch genau vor mir. Ich sehe mich mit Kai am Mississippi sitzen, ich beobachte jede unserer Bewegungen, ich höre jedes einzelne unserer Worte. Ich spüre die Stimmung zwischen uns, diese unheilvolle Spannung. Und ein eisiger Schauer läuft mir bei dem Gedanken an diese Nacht den Rücken hinunter.
Es war eine schöne, sternklare Nacht. Eine jener Nächte, in denen man viel, sehr viel sagt und hinterher noch mehr davon wieder schrecklich bereut.
Doch heute, wenn ich heute hier am Mississippi stehe und dieser Nacht gedenke, hätte ich heute nur einen Wunsch frei, ich würde mir wünschen, in dieser Nacht noch viel, viel mehr gesagt zu haben. Ich würde mir wünschen, dass Kai in dieser Nacht noch viel, viel mehr gesagt hätte.
Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht besser. Vielleicht aber auch schlechter. Ich weiß es nicht. Ich kann es mir nicht einmal wirklich vorstellen. Ich weiß nur, dass ich keinen Wunsch frei habe und dass alles so ist, wie es ist. Dass alles so passierte, wie es passierte. Und dass es noch immer weh tut. Noch immer, nach 30 langen Jahren.
Das überwältigende Gefühl der Freundschaft und des Vertrauens zwischen uns wurde immer größer, die Dunkelheit und der Alkohol taten das Ihre, und so redeten und redeten wir, meist über unheimlich sentimentales Zeug.
Irgendwie kamen wir dann auch auf Medea zu sprechen und darauf, dass sie mich verlassen hatte. Und wie. „Weißt du, Kai, ich hab sie wirklich geliebt. Ich verstehe nicht, wie sie so einfach gehen konnte. Ich verstehe das nicht!“
Kai sah schweigend zu Boden. Dann legte er seinen Arm um meine Schultern, wie er es in Momenten wie diesem schon so oft getan hatte. Aber dieses Mal zögerte er.
Schließlich sagte Kai mit seltsam rauer Stimme: „Vergiss sie! Sie ist es nicht wert, dass du ihretwegen so down bist. Sie...“
Er überlegte, und ich wusste, jetzt würde ein Bild kommen. Er sprach immer gerne in Bildern, wenn er selber keine Worte mehr hatte.
„Ja, genau, sie ist nur ein Stein auf deinem Weg. Wie all die anderen auch. Sie ist hinter dir und nicht mehr wichtig!“
Ein schönes Bild. Ich dachte darüber nach, und die Vorstellung gefiel mir, mein Leben als eine Art Weg zu sehen. Doch sie überzeugte mich nicht.
„Ja, ich glaube, du hast Recht. Danke!“ Ich versuchte, fröhlich zu klingen, aber ich dachte: ‚Ja, Kai, bestimmt hast du Recht. Sie ist nur ein Stein auf meinem Weg. Einer unter vielen. Nur ein Stein. Aber ein großer, ein verdammt großer!’
Ich seufzte. Doch ich wollte uns durch meine Sentimentalitäten nicht den ganzen Abend verderben. Also raffte ich mich zusammen und fragte betont munter: „Sag mal, Kai, du hast immer eine Antwort für mich. Jedes Mal. Aber warum hast du selber eigentlich noch nie eine Freundin gehabt? Ich meine, du bist doch immerhin schon 20!“
Er zog seinen Arm zurück und senkte den Kopf wieder. Er sprach so leise, dass ich ihn kaum verstehen konnte. „Ich weiß nicht.“ „Komm, du willst mir doch nicht erzählen, du hättest keine abbekommen! Gerade du! Ich hab dich in Discos gesehen. Da waren doch so viele! Und du bist witzig, immer gut drauf und du – naja, siehst eben echt cool aus!“
Kai fuhr hoch und starrte mich an. Im Schein der Lampions konnte ich seine Augen glitzern sehen. „Findest du?“ Verwirrt sah ich ihn an. Irgendwas war anders an ihm als sonst! Aber was? Und wieso?
„Ja, natürlich. Was ist denn los mit dir?“ Er seufzte und sah verträumt auf den Mississippi. „Ach, weißt du, Mitja, manchmal ist das Leben so schön. In Momenten wie diesem zum Beispiel. Aber manchmal tut es hier“ er legte die Hand auf seine Brust „so weh, dass ich am liebsten sterben möchte. Ich möchte einfach einschlafen und träumen und nie wieder aufwachen müssen.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war erschrocken und bekam beinahe Angst. So – so merkwürdig hatte ich Kai noch nie erlebt. Ich traute mich nicht, etwas zu tun oder zu sagen, weil ich nicht wusste, was dann passieren würde. Also sagte ich erst einmal gar nichts.
Alles war ruhig. Leise drang die Musik des DJs zu uns herüber. Dann plötzlich fuhr Kai in einem ganz anderen, viel frischeren Ton fort: „Mitja, erinnerst du dich noch daran, wie wir früher mit deiner Großmutter einmal dieses alte Volkslied gesungen haben? Dieses ‚Ach wie ist’s möglich dann’?“
Ich erinnerte mich noch sehr gut daran und nickte. Wir hatten uns immer furchtbar lustig darüber gemacht. Aber wie kam Kai jetzt darauf? Er begann, den Text halblaut vor sich hin zu murmeln.
 
„Ach wie ist’s möglich dann
Dass ich dich lassen kann,
Hab dich von Herzen lieb,
Das glaube mir!
Du hast das Herze mein
So sehr genommen ein,
Dass ich kein Andern lieb,
Liebe so sehr.
 
Obschon das Glück nicht wollt,
Dass ich dein werden sollt,
So lieb ich dennoch dich,
Glaub’s sicherlich!
Es soll kein Andrer sein,
Der mich soll nehmen ein,
Als du, o schönstes Kind,
Dir bleib ich treu!
 
Stoß mir das Herz entzwei,
Wenn du ein falsche Treu
Oder nur falsche Lieb
Spürest an mir!
Dir will ich jederzeit
Zu Diensten sein bereit,
Bis dass ich kommen werd
Unter die Erd.
 
Nach meinem Tod alsdann,
Auf dass du denkst daran,
Nimm an der Totenbahr
Dies Reimlein wahr:
Hier liegt begraben drein
Die dich geliebt allein
Die dich geliebet hat
Bis in das Grab.“
 
Ich nickte noch einmal. „Ja, so ging es. Aber wie kommst du jetzt darauf?“
Kai ging gar nicht auf meine Frage ein. „Wir haben uns darüber lustig gemacht. Wir wussten beide nicht, warum jemand so etwas singen sollte. Oder wie man auch nur darauf kommen könnte. Wir haben gedacht, man müsste schon ganz schön krank sein, um so zu denken!“ Er lachte. „Ewige Treue, ohne wirklich erhört zu werden. Jemanden nur lieben, um ihn zu lieben. Ohne Gegenleistung, ohne ihn jemals zu bekommen.“
Ich fragte mich, ob Kai vielleicht ein bisschen zu viel getrunken hatte. Aber das konnte nicht sein. Er trank kaum Alkohol. Meist sogar gar nichts. Das lag daran, dass er als Kind miterlebt hatte, wie Markus, sein Onkel, einmal in einem Rausch gegen einen Baum gefahren war. Seitdem saß Markus im Rollstuhl und Kai hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen alle Spirituosen. Außerdem war er Sportler. Das passte nicht zusammen.
„Ja, das hört sich komisch an.“ Ich begriff noch immer nicht, worauf er hinaus wollte. Und Kai fuhr fort: „Ich habe es jetzt verstanden, glaube ich. Wäre es nicht toll, einmal so etwas zu erleben? Jemanden zu finden, der so denken kann, wenn er einen sieht? Der einen bedingungslos liebt? Ich würde das zu gerne einmal erleben.“ „Ja. Und das wirst du bestimmt auch. Irgendwann.“ Aber ich glaubte selber nicht so recht an meine Worte. So etwas gab es nur in kitschigen Liebesromanen.
„So jemanden finden und dann sterben,“ murmelte er. Ein paar Minuten blieb es wieder still. Ich dachte über Kai nach und darüber, was er gesagt hatte. Oder ich dachte, dass ich darüber nachdachte. Denn in Wirklichkeit tat ich es nicht, sondern hoffte nur, dass das hier möglichst schnell vorbei sein würde. Vielleicht habe ich ihm in Wirklichkeit ja nicht einmal richtig zugehört.
Schließlich stand Kai auf und ging. Ich drehte mich nicht um. Ich weiß selber nicht, warum ich es nicht tat, denn ich spürte doch, dass er jetzt fortgehen würde. Ein paar Worte würde er vielleicht noch sagen, aber dann würde er endgültig von hier, von mir verschwinden. Und trotzdem drehte ich mich nicht nach ihm um. Ich wünsche mir so sehr, dass es anders gewesen wäre.
„Mitja, wenn ich jetzt fortgehe, musst du mir noch eines versprechen!“ Er stand dicht hinter mir und ich konnte seinen Blick in meinem Rücken spüren.
„Was?“ Ich rührte mich nicht, und meine Stimme klang seltsam fremd in meinen Ohren. So kalt. Warum nur? Mir war kalt, äußerlich und innerlich.
„Das klingt jetzt vielleicht albern, aber – bitte, vergiss mich nicht! Und – behalte mich – behalte mich in guter Erinnerung. So, wie ich jetzt bin. Behalte die Erinnerungen, was auch passiert. Bitte!“
Er lachte leise, aber es klang wie ein Weinen. „’Und wenn es dunkel wird rings umher, wenn alle Herzen in Kälte erstarren, so wird das meines Bruders durch die Liebe des roten Kriegers erhellt werden.’ So sagt er doch, nicht wahr? Ja, das sagt Tonka.“
Tonka war unser Held gewesen. Viele Jahre lang. Er und sein Freund Sandee, zwei fiktive Indianer – die Symbole unserer Freundschaft. Unsere ganz privaten Helden eben.
Aber warum sprach Kai jetzt von ihm? Ich wurde immer unruhiger.
Er ging und ich hörte ihn leise singen:
 
„Nach meinem Tod alsdann,
Auf dass du denkst daran,
Nimm an der Totenbahr
Dies Reimlein wahr:
Hier liegt begraben drein,
Der dich geliebt allein,
Der dich geliebet hat
Bis in das Grab.“
 
Die letzten Worte waren nur noch undeutlich zu hören gewesen. Aber ich war mir sicher, sie richtig verstanden zu haben.
Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und drehte mich um. „Kai, was...“ Doch da war kein Kai mehr. „...soll das?“
 
Ein ungutes Gefühl stieg in mir auf. Mir wurde flau in der Magengegend. Meine Hände zitterten und fühlten sich eisig kalt an.
Kai war so seltsam gewesen, ganz anders als ich ihn kannte. Seine Worte klangen in meinem Kopf nach. Irgendwas hatte er vor. Nur was? Und warum? Ein Gedanke kam mir, der eine unheimliche Übelkeit in mir aufsteigen ließ.
Aufgeregt rannte ich durch den Garten und fragte jeden, den ich traf, nach ihm. Doch keiner konnte mir helfen, niemand hatte ihn gesehen.
So verging wohl eine gute Stunde und ich war kurz davor aufzugeben, da packte mich plötzlich jemand von hinten am Arm und hielt mich fest. „Er wollte doch mit dir sprechen!“ zischte es an mein Ohr.
Erschrocken fuhr ich herum und sah in Lous Gesicht. Es verriet deutlich, dass irgendwas ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Lou war blass und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Irgendwas stimmte da ganz und gar nicht.
Wortlos bedeutete er mir, ihm zu folgen. Mir wurde noch schlechter. Meine Knie zitterten und ich stolperte hinter ihm her.
 
Lou führte mich quer über unser Grundstück, watete durch den Mississippi und blieb schließlich einige Schritte vor einer großen, alten Eiche stehen.
‚Das hätte ich mir auch selber denken können!’ Ich kannte diesen Baum und seine Bedeutung nur zu gut. Böse Vorahnungen schnürten mir die Kehle zu und griffen mit eisiger Hand nach meinem Herzen.
Langsam trat ich neben Lou und sah das schrecklichste Bild, das ich bis dahin je hatte sehen müssen. Es verfolgt mich noch heute ab und zu.
Am liebsten wäre ich weggerannt. Oder, noch besser: Aufgewacht. Am liebsten wäre ich aufgewacht und hätte festgestellt, dass alles nur ein Alptraum gewesen war, angefangen von dem Tag an, als er mir sagte, dass er fortgehen würde.
Aber leider wachte ich nicht auf und ich rannte auch nicht weg. Ich starrte nur auf diese schreckliche Szenerie.
Wenn man so etwas im Fernsehen sieht, hält man es wohl für übertrieben. Man denkt, dass keinem Menschen so etwas passieren könnte. Man lacht vielleicht sogar über die Angst oder die Tränen, die vergossen werden.
Auch ich habe das unzählige Male getan. Und auch ich habe es nie für möglich gehalten, dass mir so etwas passieren könnte. Weder das, was an diesem Abend geschah, noch das, was in der Folge geschehen sollte. Es war wie ein schlechter Film. Aber es war real.
Die silberne Scheibe am Himmel ließ die kleine silberne Klinge, die unter dem Baum im Moos lag, hell schimmern und glitzern. Sonst war alles grau. Das Wasser, das Laub, selbst die Luft.
Der Mond beleuchtete mit seinem bleichen Licht meinen ebenso bleichen besten Freund. Mit geschlossenen Augen saß Kai auf dem Boden. Er lehnte mit dem Rücken am Stamm des Baumes. Sein Kopf war auf seine Brust gesunken, seine Arme lagen kraftlos im Laub. Dunkle Pfützen hatten sich um sie gebildet, die schon die Hosenbeine erreichten und sie mit ihrer dunklen Flüssigkeit tränkten. Aus Kais Handgelenken floss ein nunmehr nur noch dünner Strom Blut und nährte die Lachen immer weiter.
Kai hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Klar und nüchtern wurde ich mir dieser Tatsache bewusst.
Meine Übelkeit, meine Beklemmung, alles war mit einem Mal wie weggeblasen. Vielleicht waren diese Gefühle aber auch nur so übermächtig geworden, dass ich sie einfach nicht mehr wahrnahm.
Wie mechanisch ging ich auf meinen ältesten, besten Freund zu und kniete mich neben ihn ins Laub. Lou blieb unbeweglich stehen. Und es war gut zu wissen, dass er es tat und nicht fortging.
„Kai! Kai!“ Während meine Knie kalt und nass wurden, krallte ich meine Finger um seine Arme und schüttelte ihn voller Angst. Er stöhnte und schlug die Augen auf.
Erleichtert atmete ich auf. Für einen Moment war ich wirklich versucht zu glauben, alles wäre nur ein dummer Scherz gewesen. Doch als ich Kai dann in die Augen sah, wusste ich, dass er hier und jetzt, in meinen Armen sterben würde. Und vor allem auch, dass er sterben wollte. Und das war noch viel schlimmer als alles andere. Was kann man einem solchen Wunsch schon entgegensetzen? Hatte nicht jeder das Recht, seinen Tod selbst zu bestimmen? Aber nicht so, nicht hier, nicht er! Es raubte mir den Atem.
„Kai, warum hast du das gemacht? Warum?“ „Mitja, du – du solltest nicht – hier sein! Das ist nicht gut!“ Kai flüsterte und es kostete ihn Kraft, die Worte zu finden, die er suchte. Aber das war mir egal. Es war mir egal, dass er Schmerzen hatte, und es war mir auch egal, dass er sich quälte. Ich wollte nur, dass er sprach. Er sollte sprechen, und er sollte nie wieder damit aufhören!
„Doch, es ist gut! Kai, Junge, warum?“ Er lächelte mühsam. Und dieses Lächeln werde ich wohl mein Leben lang nicht vergessen können. Es ist für immer unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingebrannt. Vielleicht will ich es ja auch gar nicht vergessen. Ich weiß es nicht.
„Heim – Heimweh. Es wäre einfach – zu lange gewesen. Zu lange für mich!“ Und auch ich fand keine Worte mehr. „Wir hätten doch – reden können! Du warst doch immer mein – Bruder!“ Kai versuchte noch einmal ein Lächeln. Aber es wirkte wie eine merkwürdige Fratze.
Dann flüsterte er so leise, dass ich mein Ohr ganz nah an seinen Mund bringen musste um ihn überhaupt verstehen zu können: „Ich habe keine Angst. Tonka hätte auch keine. – Verzeih deinem Bruder, Mit...“
Dann war er tot. Ich wusste es sofort. Aber ich ließ ihn trotzdem nicht los. Meine Finger bohrten sich ohne mein Zutun nur immer noch fester in seine Arme.
„Kai! Du alter Idiot!“ Aber ich meinte es nicht böse. Ich fühlte nicht, was ich sagte. Ich fühlte nur Schmerz und Unverständnis.
Kais Gesicht wurde zu einer wächsernen Maske. Je länger ich hinein sah, desto fremder wurde es mir. Ich sah, wie seine Augen langsam starr wurden, starr und kalt. Mit gläsernen, toten Augen blickte er mich an.
Kai – mein Freund, mein Kumpel, mein Schatten, mein Partner. Derjenige, auf den ich mich immer verlassen hatte. Dem ich mein Leben anvertraut hätte. Und für den ich selbst mein eigenes Leben riskiert hätte. Mein kleiner Bruder, den ich nie hatte.
Kai. Er hatte das erste Mal das letzte Wort gehabt. In seiner Flucht hatte er das erste Mal offen über alle triumphiert. Gesiegt. Auch über mich.
 
Ich kann nicht beschreiben, was in diesen Momenten in mir vorging. Ich kann auch nicht sagen, was ich fühlte. Ich kann nicht einmal sagen, wie viel Zeit verging. Eine kleine Ewigkeit, glaube ich.
Schließlich stand ich auf. Meine Hose klebte kalt an meinen Knien. Ich wandte mich ab. Ich konnte den Anblick, der mir da geboten wurde, einfach nicht mehr ertragen.
Lou stand noch immer genau da, wo er stehen geblieben war. Unverändert, genau wie vorher. Wie eine Statue. Aber jetzt trat er zu Kai und schloss ihm behutsam die Augen. Ich konnte nicht begreifen, wie er das tun konnte. Wie hypnotisiert folgte ich jeder seiner Bewegungen. Seine Hand zitterte.
Dann fiel mein Blick auf den Baum. Es war dunkel. Nur der Mond erhellte mit seinem gespenstischen Licht die Szene. Es war Vollmond. ‚Verzeih deinem Bruder,’ hatte er gesagt. Ihm verzeihen? Das hier, verzeihen?
Ich hatte keinen Bruder mehr. Und ich hatte anscheinend auch nie einen gehabt. Ein Bruder würde seinem Bruder so etwas nicht antun. Niemals!
Ich wusste nicht mehr wohin vor lauter widersprüchlicher Gefühle in mir. Ich liebte ihn mehr, als ich es jemals gedacht hätte. Und gleichzeitig hasste ich ihn, hasste ihn so sehr für das, was er mir hier angetan hatte!
Plötzlich, ich weiß auch nicht wann genau, war bei mir ein Punkt erreicht, an dem ich es nicht länger aushalten konnte. Es brach einfach alles aus mir heraus. „Du bist ein Idiot, Kai, ein verdammter Idiot! Das kannst du doch nicht machen! Das ist nicht fair! Hörst du? Das ist nicht fair! Du verdammter, mieser Egoist!“
Ich schrie und schleuderte Beschimpfungen und Vorwürfe über Vorwürfe in die Dunkelheit der Nacht hinein. Alles, was mir gerade in den Sinn kam, und alles, was ich fühlte, sprudelte aus mir heraus und nahm in unzusammenhängenden Worten und Sätzen Gestalt an, die zu wiederholen mir heute unmöglich wäre. Und dieses Mal meinte ich sie ernst.
Plötzlich hatte ich das Gefühl, mich im Kreis zu drehen. Es ging immer herum und herum. Und was ich auch tat, ich konnte die unsichtbare Mauer, die mich umgab, nicht durchbrechen. Nirgendwo war ein Ausweg, nirgendwo ein Halt.
Irgendwann knickten meine Beine unter mir weg und ich fiel zu Boden. Ich lag auf dem Rücken im Laub, presste mir mit den Händen die Augen zu und heulte. Ich heulte einfach los. Und ohne dass ich es merkte, schrie ich plötzlich vor Schmerz laut auf.
Ich denke, ich brauche mich deswegen nicht zu schämen. Ich war noch nie dem Irrglauben verfallen, dass man als Mann seine Gefühle nicht zeigen darf. Und vor allem in einer solchen Situation wäre dieser Vorsatz ganz und gar unmenschlich, wenn nicht sogar unmöglich gewesen.
Ich denke, schämen müsste ich mich wohl eher, wenn ich es nicht getan hätte. Schließlich war Kai mein absolut bester Freund gewesen. Und egal, was auch immer er getan hatte, das würde sich nicht ändern. Unsere Vergangenheit würde sich nicht ändern. Meine Erinnerungen nicht. Nie.
Ich war mit Kai zusammen aufgewachsen. Ich hatte mit ihm zusammen gelernt, was es heißt, zu leben. Wir hatten alles geteilt, gute Zeiten und schlechte Zeiten. Wir waren Freunde gewesen. Man hätte nicht sagen können, wo das Leben des einen aufgehört und das des anderen begonnen hatte. Denn sie hatten immer zusammen gehört, schon solange ich denken kann. Es gab nie ein ‚ich’, immer nur ein ‚wir’.
Wir waren erst gemeinsam in den Kindergarten gegangen, obwohl wir öfter bei mir Zuhause gewesen waren als dort, und dann in die Schule. Wir waren zwölf Jahre lang in einer Klasse gewesen. Ging es dem einen nicht gut und blieb er zu Hause, ging auch der andere nicht zur Schule. Konnte der eine etwas nicht, half der andere ihm oder ließ ihn abschreiben. Steckte der eine in Schwierigkeiten, konnte er immer darauf rechnen, dass der andere ihm heraushalf.
‚Die Zwillinge’ hatten sie uns genannt, weil wir immer zusammen gewesen waren, nie getrennt, bis er die Versetzung in die Klasse 3 nicht geschafft hatte. Das war bis dahin der schwärzeste Tag meines Lebens gewesen. Doch auch diese Trennung hatte unserer Freundschaft keinen Abbruch tun können. Wir hatten uns gesehen, so oft es ging, und weiterhin alles gemeinsam gemacht. Und niemand hatte sich jemals auf den Platz an meiner rechten Seite setzen dürfen. Denn an meiner rechten Seite hatte vom ersten Tag an immer nur Kai gesessen.
Ich habe ihn geliebt. Ich muss es sagen, auch wenn ich es erst Jahre später verstand, habe ich ihn geliebt.
Natürlich war auch bei uns das Leben nicht immer ein reines Zuckerschlecken gewesen. Es hatte oft Streit gegeben, doch die Versöhnung war immer recht schnell gekommen. Er war eben mein Freund gewesen, ein fester Bestandteil meines Lebens. Das letzte, was ich gewollt hätte, wäre gewesen, ihn zu verlieren. Und nun war er endgültig fort. Und das so plötzlich und ohne Hoffnung, ihn jemals wieder zu sehen.
Dabei wusste ich nicht einmal genau, ob ich ihn überhaupt noch wiedersehen wollte. Er hatte mich verlassen. Im Stich gelassen, verraten, bestohlen, betrogen, ausgeliefert, hintergangen, zurückgelassen, belogen, aufgegeben, angeklagt, angeprangert, ausgeschlossen, bestraft – er hatte mir das schlimmste angetan, was er konnte: Er hatte gekniffen und war vor dem Leben geflüchtet. Alleine. Ohne mich.
Kann man einen Menschen so sehr hassen, wie ich es tat, wenn man ihn nicht vorher einmal im gleichen Maße geliebt hat? Oder sogar noch liebt?

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