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Sonntag, 12. August 2007

Kapitel VI
Von dimitrikalaschnikov, 10:59

 
„Endlich Nacht, kein Stern zu sehn. Der Mond versteckt sich, denn ihm graut vor mir. Kein Licht im Weltenmeer, kein falscher Hoffnungsstrahl. Nur die Stille und in mir die Schattenbilder meiner Qual.”
Der Tanz der Vampire
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Von weitem hörte ich das laute Schrillen einer Sirene. Blaue Lichter zuckten über den schwarzen Himmel. Ein Krankenwagen schoss auf unsere Einfahrt und hielt mit quietschenden Reifen vor unserer Haustür. Lou hatte ihn wohl gerufen, bevor er mich zu Kai gebracht hatte.
Als die Sanitäter mit einer Trage kamen, berichtete er ihnen, was passiert war und führte sie dann zu der alten Eiche. Ich blieb am Haus stehen und rührte mich keinen Schritt von der Stelle.
Es dauerte keine zehn Minuten, dann kam Lou zurück. Er zog mich zur Seite und drückte mir einen zerknitterten Zettel in die Hand. „Hier. Er hat ihn in meine Tasche gesteckt.“ Seine Hand war feucht, und als ich sie berührte um das Stück Papier entgegen zu nehmen, zog er sie schnell zurück.
Mit zitternden Fingern faltete ich den Zettel auseinander. Er war eng beschrieben. Ich erkannte Kais Schrift sofort.
‚Lou, es gibt keine Alternative. Ich habe die Zukunft gesehen. Aber in dieser Zukunft war kein Platz mehr für mich. Ich glaube, jetzt bist du dran. Ich bin wirklich sehr froh, dass du da bist. Du musst ihm etwas sagen. Ich kann es nicht selbst tun. Es geht nicht. Sag ihm, dass er nicht traurig sein soll. Sag ihm, dass ich es schon so sehr bin, dass es für unsere beiden Leben ausreicht.’
Das stand da. Ich las es wieder und wieder, und als ich endlich aufsah, war ich alleine. Lou war verschwunden. Ich zerriss den Zettel und warf die Schnipsel in den Mississippi.
Traurig. Ich war nicht traurig. Ich war wütend und verletzt. Vielleicht würde ich später traurig sein, aber das war das letzte, was ich wollte. Das hatte Kai sich nicht verdient. Dafür hatte er mich zu sehr enttäuscht.
 
Mit dem Tod meines Freundes fand verständlicherweise auch unsere Party ein jähes Ende. Ich schickte alle, die noch nicht von selbst gegangen waren, nach Hause.
Dann war ich endlich allein. Wieder war alles still. Auch in mir. So unheimlich still, dass ich am liebsten erneut laut losgeschrieen hätte. Aber ich tat es nicht.
Meine Eltern würden erst am Morgen wieder heimkommen. Und anrufen und bitten, dass sie früher kämen, wollte ich nicht. Es hätte mir ja doch nicht geholfen.
Ich wusste, ich würde jetzt keinen Schlaf finden können. Ich hatte sogar das Gefühl, als würde ich nie wieder schlafen können. Wie auch? Immer, wenn ich die Augen schließen würde, würde ich sein blasses Gesicht vor mir sehen und denken, er würde noch immer da unter dem Baum liegen. Doch das tat er nicht. Und irgendwie musste ich es mir selbst beweisen. Also ging ich noch einmal hinaus, dorthin, wo Kai gestorben war.
Ich stand lange da und dachte an nichts und alles. Ich kann nicht sagen, ob ich mittlerweile traurig war. Es war einfach so leer in mir und um mich herum, dass ich irgendwann nicht mehr wusste, ob das alles Wirklichkeit oder vielleicht einfach nur ein ekelhafter Traum war.
Irgendwann überwältigte mich dieses Gefühl, diese Unsicherheit, die mich beinahe wahnsinnig machte. Und nur um zu wissen, ob ich selber überhaupt noch lebte oder vielleicht auch schon längst tot war, trat ich auf ein dichtes Brombeergebüsch zu. Ich griff hinein und wartete, was passieren würde. Ich wollte endlich diese erstickende Taubheit loswerden, die mich gefangen hielt. Ich wollte wieder frei atmen können. Aber es gelang mir nicht.
Zwar spürte ich die Dornen, die sich durch die Haut in meine Hand bohrten. Ich spürte die Schmerzen, die diese kleinen, spitzen Eindringlinge mir bereiteten, und ich wusste sehr wohl auch um die Schmerzen, die sie mir später noch zufügen würden. Morgen und vielleicht auch übermorgen noch, sofern es diese Tage überhaupt geben würde.
Doch das alles half mir nicht. Und mein Herz sagte mir, es würde auch niemals helfen. Die Taubheit würde bleiben.
Ich hatte von Leuten gehört, die Selbstverletzungen als einen Weg benutzten, psychische Schmerzen in physische umzuwandeln um sie so besser begreifen und verarbeiten zu können. Ich wusste auch, dass diese Methode außer Narben nichts brachte. Und jetzt hatte ich es selber erlebt.
Trotzdem ich das alles wusste, und trotzdem meine Hand höllisch weh tat, lockerte ich meinen Griff nicht. Im Gegenteil, ich packte immer fester zu und beobachtete fasziniert, wie das Blut aus dem Inneren meiner geballten Faust rann.
Dann riss ich meine Hand mit einem Ruck ein Stück zurück. Ich spürte, wie jede einzelne Dorne wie ein kleines Messer im Inneren meiner Hand Zelle für Zelle durchtrennte. Zerstörte. Leben abtötete.
Ich schrie beinahe laut auf vor Schmerz. Aber die Taubheit blieb. Nichts wurde klarer, nichts realer, nichts wirklicher. Und deshalb griff ich fester zu.
Ein unbändiger, unbestimmter Hass auf alles und jeden hatte mich ergriffen und verfolgte das Schauspiel mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen. Er kostete jede einzelne Sekunde des Schmerzes in vollen Zügen aus. Es war etwas in mir, das mich in seiner Gewalt hatte. Etwas, das mich um jeden Preis zerstören wollte. Und ich hatte Angst, dass es diesem Etwas schließlich auch gelingen würde.
Dann irgendwann war meine Hand genauso taub wie alles andere an mir. Ich spürte den Schmerz nicht mehr, den mir die Dornen zugefügt hatten. Und da gewann ich endlich die Kontrolle über meinen Körper wieder zurück.
Also ließ ich los und starrte meine Hand fassungslos an. Fassungslos einerseits darüber, was ich da gerade getan hatte, und andererseits auch darüber, dass ich tatsächlich blutete. Ich fühlte mich so tot und leer, dass es eigentlich nicht sein konnte. Das Blut floss langsam und in Schüben. Der rote Strom des Lebens. Der gleiche Strom wie bei Kai.
Ich begriff, dass es nicht helfen würde. Vorher hatte ich es zwar gewusst, irgendwo tief in mir, aber erst jetzt begriff ich es wirklich. Es würde weder meine Starre lösen, noch etwas ungeschehen machen können. Nichts und niemand würde das können.
Kai war fort. Kai. Der Freund, mit dem ich alles zusammen erlebt hatte, was man nur erleben kann. Mit ihm zusammen war ich das erste Mal im Schwimmbad gewesen. Mit ihm zusammen hatte ich Eishockey spielen gelernt. Mit ihm zusammen war ich das erste Mal im Kino und in der Disco gewesen. Er war dabei gewesen, als ich meine erste Freundin kennengelernt hatte.
Er war sogar mit auf die Beerdigung meiner Großeltern gegangen. Er hatte mir geholfen. Immer und bei allem. Genau wie ich ihm. Jedenfalls hatte ich das immer geglaubt.
Doch jetzt war er fort. Er hatte mich einfach alleine gelassen. Kai, mein trauriger Freund, der immer lächelte, wenn alle anderen lachten. Der selbst dann immer lächelte, wenn alle anderen weinten.
Das war nicht richtig gewesen. Das war nicht der Kai gewesen, den ich gekannt hatte. Seit wann hatte er das getan? Immer schon? Nein. Erst seit kurzem.
Warum hatte ich ihm nicht helfen können? Wenn ich ihm nicht hatte helfen können, wie sollte ich dann – wie sollte ich mir selbst dann jemals helfen können? Jetzt, wo ich nicht nur seinen, sondern auch meinen eigenen Schmerz tragen musste. Und das auch noch alleine.
Erneut überkam mich Angst, als ich mir meiner Schwäche bewusst wurde. Ich war wehrlos, dem Schmerz ohne Schutz oder Hilfe ausgeliefert. Kein Weg, ihn greifbar zu machen, kein Weg, ihm zu entkommen.
Während ich das alles begriff und verzweifelt gegen meine Panik anzukämpfen versuchte, trat ich langsam bis an den Baum heran. Meine Hand pochte wild und ich ballte sie zu einer Faust.
Ich ließ die Stille auf mich wirken. Langsam wich die Angst und nur die Niedergeschlagenheit blieb. Ich versuchte voller Trauer, aber auch voller Dankbarkeit an alles zurückzudenken, was ich je mit Kai zusammen unternommen und erlebt hatte. So, wie man es tun sollte. Doch es gelang mir nicht.
Ich hasste ihn. Er hatte alles zerstört. Aber ich, ich würde nicht so einfach aufgeben. Wenn er mir alles nehmen konnte, eines würde ich ihm nicht geben: Die gemeinsame Zeit und den Spaß, den wir gehabt hatten. Die Jahre, in denen er mein treuer Gefährte gewesen war.
Geliebt und gehasst. Die Erinnerung brannte in meiner Kehle und schnürte mir die Luft ab.
Vielleicht stand ich stundenlang so da. Vielleicht waren es auch nur ein paar Minuten. Beides ist möglich. Denn ich merkte nicht einmal, dass ich überhaupt noch vor dem Baum stand. Ich hatte eine einsame Reise in die Vergangenheit angetreten.
Ich kehrte erst zurück, als plötzlich Lou hinter mir stand. Er sagte nichts und ich drehte mich auch nicht um, aber trotzdem wusste ich, dass er da war. Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken. Genau wie vorher den Blick von Kai.
Vorsichtig berührte ich die Rinde des Baumes. Meine Hand hinterließ eine feine Blutspur auf ihr. Zwei sich kreuzende Pfeile und die beiden Buchstaben K und D waren dort eingeritzt. Sie sind es, nebenbei bemerkt, auch heute noch.
„Hier haben wir uns vor Jahren verewigt. Und Blutsbrüderschaft geschlossen,“ sagte ich leise. Bei dem Gedanken daran musste ich lächeln. Ich wollte es nicht, aber ich musste.
„Er war Tonka, ich Sandee. Wir waren Krieger von feindlichen Stämmen. Deshalb durfte niemand etwas von unserem Pakt wissen.“ Natürlich hatte es dann doch jeder gewusst. Meine Eltern hatten geschimpft, seine auch, aber unsere Freunde hatten uns bewundert. Noch Jahre danach.
Ich schwieg und Lou schwieg auch. Ich dachte schon, er wäre nicht mehr da, oder vielleicht auch gar nicht da gewesen, als er mir seine Linke schwer auf meine rechte Schulter legte. Und es war, als hätte er damit einen unsichtbaren Mechanismus bei mir betätigt.
Denn plötzlich löste sich meine geistige Erstarrung und ich kehrte endgültig zurück in die Gegenwart, so als würde ich aus einem Traum erwachen. Ich realisierte langsam, was passiert war und auch, was das für mich bedeutete. Ich fiel in ein bodenloses, schwarzes Loch.
Eine Weile blieb es noch still und ich versuchte krampfhaft, alles irgendwie zu verarbeiten. Doch es war einfach zu viel und zu schwer für mich, und so hielt ich es schließlich nicht mehr länger aus.
„Warum, verdammt? Warum hat er das getan?“ Ich schrie Lou an, obwohl der ja gar nichts dafür konnte. Aber ich glaube, ich hätte in diesem Moment jeden angeschrieen. Selbst den Heiligen Geist höchstpersönlich.
Lou blieb ruhig. „Das müsstest du eigentlich selber wissen.“ „Ich weiß es aber nicht! Gar nichts! Ich verstehe es nicht! ‚Zu lange’! Es wären doch nur 2 ½ Jahre gewesen!“ „2 ½ Jahre können eine sehr lange Zeit sein.“ „Und wie lang ist sie jetzt für mich!?! Vielleicht noch 60 Jahre?“ „Dimitri.“ „2 ½! Deswegen bringt man sich doch nicht um!“ „Wenn man keinen anderen Ausweg mehr sieht. Und wenn man Angst vor dem Alleinsein hat.“ „Wieso Alleinsein? Er wäre doch nicht alleine gewesen. Er hätte doch neue Freunde finden können!“
Lou schüttelte stumm den Kopf. „Warum nicht!?!“ Ich schrie und hätte am liebsten irgend etwas kaputt geschlagen. Doch das interessierte ihn nicht.
„Neue Freunde. Sicher. Aber würdest du das auch sagen, wenn du von demjenigen, der dir am meisten bedeutet, der die Person im Mittelpunkt deines Lebens ist, getrennt werden solltest? Von der Person, um die sich alles dreht? Die du liebst? Ich denke nicht.“
Mit jedem Wort wurde Lous Hand etwas schwerer, und seine Anwesenheit anklagender. Auch wenn es wahrscheinlich nicht so gemeint war. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich verteidigen musste.
„Aber Kai hatte keine Freundin! Und auch niemanden, in den er verliebt war! Das hätte er mir gesagt! Ich war schließlich sein Freund!“ „Wie lange eigentlich schon?“ „Ich weiß nicht. 16, nein, 17 – 17 Jahre.“ Eine lange Zeit.
„Seit 17 Jahren. Ich wette, er hat es dir schon oft, sehr oft gesagt.“ „Nein!“ „17 Jahre. Der arme Kerl. Medea, Kathrin, Judith und wie sie sonst alle hießen.“ „Woher – woher weißt du von ihnen?“ „Ich habe Leon gefragt.“ Ich wunderte mich nicht darüber, dass er das getan hatte. Ich wunderte mich nur darüber, dass er sie gerade jetzt erwähnte. Es machte mir schreckliche Bauchschmerzen.
„Aber Kai wollte von keiner was! Er war in keine verliebt!“ „Oh, Dimitri! Versuch es doch zu verstehen! Er war vielleicht nicht verliebt, aber trotzdem hat er geliebt. Die ganze Zeit hindurch! Und zwar immer nur ein und dieselbe Person! Leider hoffnungslos, aber da kann niemand etwas für.“
Irgendwas an seinem Ton machte mich plötzlich furchtbar wütend auf ihn. Vorher hatte ich Kai gehasst und es Lou ausbaden lassen. Doch jetzt hasste ich ihn selbst. Lou wusste mehr als ich. Und das war nicht richtig. Das stand ihm nicht zu!
Er war der Fremde hier. Von ihm wollte ich keine Vorwürfe hören! Wahrscheinlich waren es nicht einmal welche, aber das war egal. Ich wollte sie nicht hören!
„Hör auf! Er war nicht verliebt!“ fuhr ich ihn an. Und schon wurde seine Stimme wieder sanfter. Beinahe klang er traurig. Doch das fiel mir erst später auf. Damals achtete ich nicht darauf. Ich achtete nur auf sehr wenig.
„Nein. Das war er nicht. Er war nicht verliebt, er hat geliebt. Das ist etwas anderes. Verliebt sein kommt schnell und geht auch genauso schnell wieder. Lieben aber nicht. Das dauert lange. Wenn man liebt, wartet man, wartet, wartet und wartet. Auch wenn es hoffnungslos zu sein scheint. Bis man nicht mehr kann. Lieben. – Mit jeder Faser seines Herzens hat er dich geliebt.“
Der Schreck nahm mir alle Kraft und ich fand mich mit einem Mal auf dem Boden wieder. Alles drehte sich und Bilder stürmten mit solcher Gewalt auf mich ein, dass mir beinahe schlecht wurde. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Ich sah Kai, wie er mir aufhalf, als ich beim Eishockey stürzte. Kai, wie er auf mich wartete. Kai, wie er kein einziges Wort verlor, wenn ich zu spät kam. Kai, wie er strahlte, als ich ihm sein Geburtstagsgeschenk überreichte. Kai, wie er mir einen besorgten Krankenbesuch abstattete. Kai, wie er jedem meiner Worte aufmerksam lauschte. Wie er mit mir weinte, als meine Großeltern starben. Wie er mit mir lachte, als ich meine erste Freundin kennen lernte. Wie er lachte bei der ersten und weinte bei den nächsten. Kai, wie er weinte.
Deshalb? War es das? Sein Geheimnis? Ja, deshalb.
„Du sollst ihm nicht verzeihen, Dimitri. Das kann jetzt keiner von dir verlangen. Versuch nur, ihn zu verstehen.“ Lous Worte durchschnitten meine Gedanken. Aber ich reagierte nicht auf sie. Ich konnte es nicht.
Ich hatte es gewusst. Seit er das alte Lied erwähnt hatte. Innerlich hatte ich es gespürt, aber nicht erkannt. Ich hatte es erkennen sollen. Das hatte er beabsichtigt. Aber ich hatte mich geweigert. Deshalb hatte er das Lied erwähnt, und deshalb die Erinnerung an Tonka. Deshalb. Alles zusammen war ein einziger Abschiedsgruß, und gleichzeitig auch eine einzige, letzte Bitte um Verständnis. Verständnis für etwas, das ich wohl nie erfahren hätte, wenn Lou es mir nicht gesagt hätte. Aber...
„Versuch es. Um deinetwillen, versuch es.“ Wieder ging ich nicht auf seine Worte ein. „Woher wusstest du das? Woher wusstest du das, Lou? Ich glaube nicht, dass er dir das gesagt hat!“
Ich sah zu ihm hinauf in sein Gesicht und mir wurde klar, dass er mich bemitleidete, nicht, weil heute Nacht geschehen war, was geschehen war, sondern weil ich so blind gewesen war.
„Nein, er hat es mir nicht gesagt. Das brauchte er aber auch gar nicht. Seine Augen – seine Augen haben ihn verraten. Die Blicke, mit denen er dich ansah, und der Ausdruck seines Gesichts, wenn er über dich sprach. Er sprach sehr oft über dich.“
Lou lächelte mich an. Ich verstand nicht, warum er es tat. Wie konnte er mich jetzt noch so ansehen? Nach allem, was passiert war? Wieso ekelte ich ihn nicht genauso an, wie ich mich selbst auch anekelte?
„Ich weiß nicht, ob es richtig war, es dir zu sagen, oder ob Kai es gewollt hätte. Aber ich denke, du solltest wissen, was wirklich los war. Das bin ich Kai schuldig.“ Dann verschwand er einfach und ließ mich mit meiner Ungläubigkeit und meinen Zweifeln allein.
Ich zweifelte nicht etwa an der Wahrheit dessen, was Lou gesagt hatte. Das glaubte ich ihm aufs Wort. Aber ich zweifelte daran, dass ich Kai ein guter Freund gewesen war. Ich meine, ich war 17 Jahre lang mit ihm befreundet gewesen und hatte nie gemerkt, was er wirklich gefühlt hatte. Und Lou, Lou war hierher gekommen, hatte ihn nur ein paar Mal getroffen und schon Bescheid gewusst.
Ich saß da, mit den Händen im Schoß, und starrte vor mich hin. Meine Hand pochte noch immer wild. Aber mein seelischer Schmerz wog schwerer. Viel schwerer.
Für mich war eine kleine Welt zusammengebrochen. Nein, die ganze Welt. Aber wenn ich etwas gemerkt hätte, hätte das dann etwas geändert? An der Beziehung – wie anzüglich sich dieses Wort plötzlich anhörte! – zwischen uns oder vielleicht an unserer Freundschaft? Wenn ich etwas gemerkt hätte, hätte ich dann – hätte ich dann verhindern können, was heute hier passiert war?
Wenn ja, dann hatte ich jetzt nicht nur meinen vielleicht einzigen Freund verloren, ich hatte seinen Tod auch noch verschuldet. Ich hatte Kai auf dem Gewissen. Ich war schuld an seinem Tod, ich allein!
„Das ist nicht wahr.“ Ich erschrak. Lou stand wieder hinter mir. Oder immer noch? Und hatte ich etwa laut gedacht? Ich war mir ziemlich sicher, das nicht getan zu haben. Langsam wurde er mir beinahe unheimlich.
Vielleicht reagierte ich auch deshalb so aufgebracht. Obwohl in dieser Nacht eigentlich alle meine Gefühle extrem gewesen sind.
Ich drehte mich zu ihm um. „Doch! Ich hätte etwas merken und etwas unternehmen müssen!“ „Nein! Niemanden trifft die Schuld. Oder alle. Bin ich etwa schuld, weil ich ihm gesagt habe, er soll mit dir sprechen? Oder du, weil du ihn nicht verstanden hast? Oder seine Eltern, weil sie ihn fortschicken wollten? Oder er selbst, weil er nichts getan hat? – Nein. Alle sind schuld und keiner. Keiner kann den Lauf der Welt aufhalten! Wir können nur versuchen, sie etwas zu verbessern. Jeder tut, was er denkt, tun zu müssen. Und manchmal bleibt einer zurück. Das ist schrecklich, aber es ist so.“
Er klang traurig, doch das interessierte mich nicht. Ich sprang auf und schrie ihn feindselig an: „Du hast leicht reden! Dir wurde nicht gerade gesagt, dass dein bester Freund – dein bester Freund – du weißt schon!“ Ich konnte es einfach nicht aussprechen und dafür schämte ich mich einen Moment lang ein bisschen. Deshalb schrie ich noch eine Spur lauter. „Dein bester Freund hat sich nicht gerade umgebracht!“
Ich war so wütend wie noch nie. Wie konnte er sich anmaßen, sich derart in meine Angelegenheiten einzumischen!?! – Aber nein, das war es eigentlich gar nicht. Das war es nicht, was mich so empörte. Sondern: Wie konnte er es wagen, mich jetzt trösten zu wollen!?!
Ich wollte nicht getröstet werden! Ich wollte nichts anderes, als Kai in meinem Schmerz noch einmal nahe zu sein. Wie konnte Lou über seinen Tod so einfach hinweggehen!?! Als wäre es der Tod irgendeines Fremden! Er sollte mich gefälligst in Ruhe lassen!
Heute weiß ich sehr wohl, was damals passiert wäre, hätte er mir meinen Willen getan und hätte ich mich diesem selbstzerstörerischen Gefühl hingeben können. Ich habe es oft genug mit ansehen müssen, weil Leute, unter ihnen Freunde und Bekannte von mir, sich einfach nicht helfen lassen wollten. Und ich bin jedes Mal wieder froh, dass Lou an diesem Abend und in der Zeit danach da war.
Denn sonst wäre es mir genau wie ihnen ergangen. Ich wäre in Selbstmitleid versunken oder vor Hass gegen mich und alle anderen verkommen. Der Abgrund wäre tiefer und tiefer geworden, ohne dass es ein Halten für mich in meinem Fallen gegeben hätte.
Aber damals spürte ich nur diese Kälte und die Leere, vor der ich flüchten wollte, egal, wie. Deshalb war ich so furchtbar wütend auf Lou, als er versuchte, mich aufzuhalten. Und ich weiß nicht, wie viel schlimmer alles noch gekommen wäre, hätte er es nicht getan.
„Manchmal bleibt einer zurück,“ wiederholte er, völlig ungerührt von meinem Zorn. „Es gibt nichts schlimmeres. Aber es passiert. Und es wird Zeit, dass du das merkst.“
Nie habe ich jemanden mehr gehasst, aber auch gleichzeitig mehr geliebt, als Lou in diesem Moment. Doch, Kai. Aber sonst niemanden. Und ich kann nicht einmal sicher sagen, warum. Vielleicht, weil er einfach nur da war, vielleicht aber auch, weil er gerade dabei war, Kais Platz einzunehmen. Niemand sonst hatte jemals so mit mir gesprochen. Ich weiß nicht, ob es absichtlich war oder nicht, doch er tat es. Anders als Kai natürlich, aber trotzdem war es der gleiche Platz in meinem Leben und in meinem Herzen. Es war, als hätte Kai einen Nachfolger für sich gesucht, jemanden, der ihn ersetzten sollte.
„Ach ja? Wird es das? Und wenn ich es gar nicht merken will?“ Er zuckte nur mit den Schultern. „Das wäre schade.“
Und mir platzte endgültig der Kragen. „Schade? Wieso fändest du das schade? Was geht dich das überhaupt an? Nichts! Du kanntest weder Kai noch kennst du mich! Du hast nicht die geringste Ahnung, was hier heute Nacht für mich kaputt gegangen ist! Du hast keine Ahnung! Das hier ist mehr als eine schlechte Note oder ein kaputtes Spielzeug! Das hier, das war ein Teil meines Lebens! Und er ist einfach weg. Das kann man nicht mit ein paar guten Worten oder etwas Kleber wieder hinkriegen! Aber das ist wohl unbegreiflich für dich, was? Du, du mit deiner heilen Welt, du hast doch keine Ahnung! Also lass mich doch endlich in Ruhe! Hau ab, nach Hause! Du gehörst nicht hierher! Nicht in dieses Land, nicht in diese Stadt, nicht an diesen Ort, nicht einmal zu den Menschen hier! Du hast weder zu Kai gehört, noch gehörst du zu mir! Und deshalb geht dich auch verdammt noch mal nichts von all dem hier etwas an! Warum sollte es auch!?!“
Betroffen sah er mich an. Das war das erste Mal, dass er sich wirklich von etwas berührt zeigte, was ich sagte. Dann lächelte er traurig. „Weil ich dich mag.“
Auch das hatte sonst nie jemand zu mir gesagt. Und plötzlich tat es mir Leid. Alles tat mir Leid. Dass ich ihn anschrie und dass ich meine Wut und diese verhasste Traurigkeit an ihm ausließ. Dass ich ihn verantwortlich machte. Und ihn dadurch selber traurig machte, noch trauriger, als er vielleicht so schon war.
Ich wandte mich von ihm ab und kauerte mich wieder auf den Boden. Lou sprach weiter, und ich merkte, dass er das, was er jetzt sagte, eigentlich für sich hatte behalten wollen.
„Du hast Recht. Ich gehöre nicht hierher. Dieses Land, diese Stadt – beides ist nicht meine Heimat. Aber was heißt das schon? Nichts. Gar nichts. Denn ich kann es dazu machen. Aber du hast kein Recht zu sagen, dass ich keine Ahnung habe. Was du heute hier verloren hast, kann dir keiner jemals ersetzen. Und niemand weiß das wohl besser als ich. Ich mag dich, und deshalb werde ich dir jetzt etwas sagen, was viele wissen, du aber wohl nicht. Sonst hättest du nicht gesagt, was du gerade gesagt hast. Ehrlich gestanden bin ich sogar froh, dass du es nicht wusstest. Weil ich es dir so selber erzählen kann. Denn nicht viele haben es von mir erfahren. Es geht nämlich auch eigentlich niemanden etwas an, und es würde wohl auch kaum jemand verstehen, warum ich es ihm erzähle. Aber ich möchte, dass wir Freunde werden, und deshalb sollst du es wissen. Dir braucht nicht das gleiche zu passieren wie mir.“
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Meine Mutter und meine kleine Schwester kamen bei einem Attentat ums Leben. Und ich bin Schuld an ihrem Tod. Ich wollte es verhindern, aber sie starben einfach, und ich konnte nichts tun. Nur zusehen und überleben.“
„Die Narbe auf deiner Brust – stammt sie daher?“ Wie um alles in der Welt kam ich denn jetzt nur auf diese Frage? Ich hätte ihn nicht unterbrechen sollen.
Aber Lou schien weder sauer noch überrascht zu sein. „Nein. Ich wünschte, es wäre so. Aber sie stammt nicht von damals. Mir passierte nicht das geringste. Und das macht die Sache nicht gerade einfacher.
Nun könnte ich mich hassen, weil ich es war, der ihren Tod verursachte. Ich könnte mich quälen damit, mein ganzes Leben als Sklave dieses einzigen Gedanken verbringen. Aber es würde nichts ändern. Und glaub mir, ich habe die Schuld an dem, was damals geschah. Ich alleine. Denn ohne mich wären sie nicht einmal dort gewesen. Und ich hasse mich dafür. Immer noch, nach so vielen Jahren. Aber ich kann auch heute noch nichts tun, nur versuchen, die Welt etwas zu verbessern, damit einem anderen nicht das gleiche passiert wie mir. Ich will nicht, dass irgend jemand so leiden muss wie der Prinz, meine Geschwister und – alle anderen.“
Ich sah ihn nicht an. Ich starrte nur wortlos auf den Boden vor meinen Füßen. Der Lou, der da mit mir sprach, war mir vollkommen fremd. Er zeigte mir das erste Mal etwas von sich, was nicht über alles erhaben war. Er zeigte mir, dass auch er nicht unerreichbar war für Schmerzen und Trauer. Und mir war nicht klar, ob dieser verletzliche junge Mann mir wirklich gefiel.
Doch irgendwas schien es mir zu geben. Ich weiß nicht, was in mir vorging, aber plötzlich war ich ganz von der Hoffnung erfüllt, dass er mir helfen konnte. Und ehe ich es so recht bemerkte, fragte ich schon leise: „Und warum bist du dann immer so – so zufrieden? Wie hast du das geschafft?“
Alles rings um uns war Stille, und auch unsere Worte harmonierten auf geheimnisvolle Art mit der Nacht. Ich liebte sie von diesem Moment an. Die Dunkelheit verbarg mich, sie wahrte Anonymität, egal wie persönlich die Dinge auch waren, die man aussprach.
Ich stand langsam auf und drehte mich um. Der Mond schien plötzlich noch etwas heller zu scheinen. Lou sah mich an. Er blickte mir direkt in die Augen. Ich erwiderte seinen Blick und das erste Mal sah ich etwas in den Tiefen seiner Augen. Für einen kurzen Moment verstand ich alles. Seine ganze Welt, all seine Gefühle schienen offen vor mir zu liegen, als ständen sie in seinen Pupillen geschrieben, so dass ich sie nur noch abzulesen brauchte.
Aber dann war es plötzlich vorbei. Die Tür war wieder zu, das Licht aus, die Schrift verwischt, die Chance vertan. Da waren nur noch diese tiefen, dunklen Augen, die so unergründlich waren, dass ich sie wohl niemals wirklich verstehen würde.
Ich wollte die Augen schließen, doch es ging einfach nicht. Lou sah mich weiterhin an, und ich hatte das Gefühl, als würde er noch immer in mir lesen.
 
„’Ich habe gesehen
Was du bist
Tag für Tag und Jahr für Jahr
Aber gewusst
Habe ich es nicht.
 
Ich habe geliebt
Wie man nur lieben kann
Tag für Tag und Jahr für Jahr
Aber gewusst
Habe ich es nicht.’“
 
Bei seinen Worten lief es mir kalt den Rücken hinunter. „Nicht wahr, Dimitri?“ fragte er. Und er hatte Recht: Gewusst hatte ich es nicht.
„Warum weiß man es erst, wenn es zu spät ist?“ Ich erwartete keine Antwort. Und ich wollte auch keine hören. Ich beobachtete ihn nur und versuchte herauszufinden, ob es mir bei ihm genauso ergehen würde. Ich hatte schreckliche Angst davor.
Die Distanz zwischen uns war so unendlich groß, aber noch größer war das Erlebnis, diesen vertrauten Fremden von einer völlig neuen Seite her kennen zu lernen.
Und irgendwo in diesem stillen Verstehen lag die Erkenntnis, dass auch er verletzt war. Auch ihm ging Kais Tod sehr zu Herzen. Wir waren Leidensgenossen. Der Unterschied war nur, dass Lou seinen Schmerz nicht zeigen würde. Niemandem und niemals.
Erst viel später habe ich verstanden, warum er es nicht tat. Er konnte es schlicht und ergreifend nicht. Er hatte es nie gelernt. Er konnte nicht trauern und dabei verletzbar sein, weil er nur wenigen vertrauen konnte. So wenigen, dass er selbst die Menschen, die er seine Freunde nannte, nicht wirklich an sich heran ließ, aus Angst, doch von ihnen verletzt zu werden.
Es gab sicherlich keinen besseren Freund als Lou. Er konnte zuhören, er konnte abwarten, er konnte helfen. Ich habe, soweit ich mich erinnern kann, niemals vergeblich auf ihn gehofft. Er war immer da. Nur eines fiel ihm schwer. Er konnte Vertrauen annehmen und bewahren, aber nur in sehr seltenen Fällen schenken.
Doch ich weiß, dass Kai eine Ausnahme gewesen wäre. Kai, Kai wäre jemand gewesen, dem er hätte vertrauen können. Denn Lou war ihm nahe gewesen. Er hatte sein Geheimnis gekannt und bewahrt. Als Einziger hatte er davon gewusst und es sorgsam gehütet.
Lou war nicht unnahbar und nicht glücklich und nicht zufrieden mit sich und der Welt. Auch das ist eine Tatsache, der ich mir erst viel später bewusst wurde. Damals ahnte ich es noch lange nicht. Ich sah nur, wie seine Fassade abzubröckeln schien. Er ließ mich sehen, wie er wirklich war.
Es schimmerte kurz, ganz undeutlich nur, etwas hervor, das mich stark an Kai erinnerte. Ich glaubte, Kais zuweilen gebückte Haltung wiederzuerkennen, die ihn immer wie einen gebrochenen alten Mann hatte aussehen lassen. Und eine unheimliche, eisige Kälte brach über mich herein.
Ich fühlte mich einsam, so einsam wie nie zuvor. Wie gern hätte ich es jetzt gehabt, hätte Lou mich in den Arm genommen. So ungern ich es auch zugab, so war es.
Wie gern hätte ich ihn in den Arm genommen, nur um einem menschlichen Wesen nahe zu sein. Und hätte ich nicht Angst vor seiner Reaktion gehabt, hätte ich es sicherlich auch getan. Wie gern hätte ich seinen Geruch gerochen und seine Wärme gespürt. Wie gerne hätte ich die Distanz zwischen uns durch Nähe ersetzt, mich an ihm festgehalten, damit ich nicht fiel. Als ob es für immer anhalten solle, obwohl ich ja wusste, dass das nicht ging. Mich von ihm trösten lassen und auch ihn getröstet, obwohl wir beide nicht zu trösten waren, weder er noch ich.
Das waren meine Gedanken. Das war alles, was in meinem Kopf umher spukte. Und mein Gehirn gab den Befehl, mich endlich zu bewegen, näher zu treten. Doch ich tat es einfach nicht. Ich gehorchte nicht, sondern stand nur da wie eine Statue. Und ich hätte ewig so stehen können.
Aber auch das tat ich nicht, sondern drehte mich um und ließ mich wieder zu Boden gleiten. ‚Mann, heute tust du was für deine Kondition! Aufstehen, hinsetzen, aufstehen, hinsetzen!’ dachte ich und musste lachen. Ich kam mir vor, als wäre ich entweder verrückt oder total betrunken, was beides nicht der Fall war. Ersteres noch nicht, und letzteres nicht mehr.
Ich vergrub mein Gesicht in meinen Armen und wartete darauf, dass die Zeit verging. „Das ist alles nur ein Traum! Das ist alles nur ein mieser, ekelhafter Alptraum!“ murmelte ich. Und für einen Moment glaubte ich selber fast daran. Die Dunkelheit, die Stille, das leise Plätschern des Mississippi – das alles war so unwirklich und schön.
Ich fuhr zusammen, als sich ein Arm behutsam um meine Schulter legte. Ich sah nach links und wusste, es war kein Traum. Denn da hockte Lou. Er hockte da, wie vorher Kai neben mir gesessen hatte.
Doch Lou nahm seine Hand nicht zurück, sondern zog mich sogar noch etwas näher an sich heran. Es war kühl, aber trotzdem lief mir der Schweiß in Strömen über die Stirn und den Rücken hinab.
„Wie hast du das geschafft?“ fragte ich noch einmal. „Komm, steh auf!“ Ich ließ mich widerwillig zum stehen bringen. Ich hätte viel lieber weiter da gesessen und seinen Arm um meine Schulter gespürt.
Er hielt mir ein Taschentuch hin. „Deine Hand.“ Ich sah sie an und stellte jetzt erst fest, dass sie blutete. Noch immer oder schon wieder? Ich band mir das Tuch darum.
„Sag es mir!“ verlangte ich. Er sah mich an, tief und ernst, so wie nur er es konnte, und sagte langsam und bedächtig, jedes einzelne Wort betonend: „Ich habe gesucht. Und ich habe die Suche erfolgreich beendet.“
Seine Stimme klang sanft, so sanft, dass ich nicht wusste, ob er seine Worte wirklich aussprach, oder ob ich alles nur irgendwie in meinem Kopf hörte.
„Suche? Was denn für eine Suche?“ „Die Suche gehört zu unserer Philosophie, die ein Teil unserer Religion ist. Es heißt, dass jeder Mensch irgendwann seine alten Werte aufgeben muss, um die Wahrheit finden zu können. Die Wahrheit über das Glück und das Unglück, über das Leben. Dieser Suche muss sich jeder, ob reich oder arm, ob jung oder alt, ob Frau oder Mann, stellen. Mag sie auch noch so hart und schwer sein.“
„Die Suche nach der Wahrheit?“ Ich schüttelte enttäuscht den Kopf. Ich hatte mir etwas anderes erhofft. Wirkliche Hilfe, nicht so einen Unsinn.
„Es gibt diese Wahrheit nicht.“ „Oh doch, es gibt sie. Ich weiß es, denn ich habe sie bereits gefunden.“ „So? Und was hast du jetzt davon? Sie bleiben tot, alle bleiben sie tot!“
Er wirkte beinahe verletzt, und ich war etwas erstaunt darüber. „Lass das, Dimitri. Natürlich bleiben sie tot. Doch die Wahrheit gibt mir die Kraft, dass ich jetzt hier mit dir stehen kann. Und ich habe nun, nachdem ich gefunden habe, was ich suchte, gesehen, dass ich, im Gegensatz zu dir, – wirkliche Freunde habe. Und ich weiß vor allem auch, wer sie sind.“
Mit diesen Worten war der ganze Zauber endgültig verflogen. Ich wich einen Schritt zurück. „Wieso? Ich habe auch Freunde!“
Was sollte das denn jetzt? Das wollte ich nicht hören! Ich, keine Freunde? Ausgerechnet ich, Dimitri Kalaschnikov, den alle mochten? Selbst wenn es wahr war, ich wollte es nicht hören!
Aber Lou ließ nicht nach. „Bist du dir da so sicher? Hast du Freunde, ich meine, wirkliche Freunde? Ich glaube nicht. Wo sind sie denn jetzt? Ich sehe niemanden. Denk einmal darüber nach, Dimitri Kalaschnikov!“ Er drehte sich einfach um und verschwand, dieses Mal endgültig.
Und ich dachte nach. Oder besser gesagt, ich tat wieder einmal so, als würde ich nachdenken. In Wirklichkeit redete ich mir nur selber etwas ein. Aber lange hielt ich das nicht durch. Bald kam ich zu dem Schluss, dass ich ja eigentlich genau das, nämlich, dass ich keine wirklichen Freunde hatte, vor ein paar Tagen und das letzte Mal erst vor ein paar Minuten auch noch gedacht hatte. Vielleicht stimmte es also sogar.
Doch gerade als ich mit meinen Gedanken so weit gekommen war, wusste ich plötzlich, dass es nicht stimmen konnte. Denn ich war ja schließlich gar nicht alleine gewesen.

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